Erster Teil: Allgemeine Fragen
Wie man Dharma, Artha und Kama erlangt
Hundert Jahre lebt der Mann. Er nütze seine Zeit gut aus und strebe nach der Dreizahl der Lebensziele, jedes zu seiner Zeit, verbinde jedes mit dem nächsten, so dass sie untereinander nicht in Widerstreit geraten. In der Kindheit soll er Wissen erlangen, in der Jugend und dem reifen Mannesalter Artha und Kama, im Alter dagegen suche er Dharma zu gewinnen, auf dass er Moksa (Erlösung) erreiche, Befreiung von weiterer Wanderschaft seiner Seele. Da es ungewiss ist, wie lange ein jeder lebt, kann er sich damit auch je nach Gelegenheit befassen. Festzuhalten ist nur, dass man Brahmanenschüler bleibt, bis man das Wissen erlangt hat.
Dharmaist die Befolgung der Shastras oder Heiligen Schrift, welche gewisse Handlungen anbefiehlt, wie Opfer, welche nicht allgemein gebracht werden, weil sie nicht von dieser Welt sind und darumäußerlich nicht sichtbar werden, oder aber Unterlassungen, wie die Enthaltung vom Fleischgenuss, den man meidet, weil die Welt es sieht.
Dharma lehren auch die Shruti oder HeiligeÜberlieferung und die Weisen, welche sie auslegen.
Arthaist der Erwerb von Wissen, Ländereien, Gold, Vieh, Reichtum, Gefolge und Freunden. Zum Erwerb kommt noch der Schutz des Erworbenen und dessen Vermehrung. Artha lehren die Beamten des Königs und erfahrene Kaufleute.
Kamanennt man den Genuss der angenehmen Dinge vermittels der fünf Sinne: Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack und Geruch. Seele und Empfinden unterstützen sie. Das wichtigste dabei ist die innige Berührung zwischen Sinnesorgan und Gegenstand der Wahrnehmung. Das daraus entspringende zweckbewusste Wohlgefühl heißt Kama.
Kama lehren das Kamasutram und der Verkehr mit der Lebewelt.
Treffen alle drei, Dharma, Artha und Kama zusammen, dann ist immer das Vorangehende wichtiger, besser als das Folgende, das heißt, Dharma ist besser als Artha und Artha besser denn Kama. Den Artha aber hat der König immer zuerst zu vollziehen, denn davon hängt des Volkes Wohlergehen ab. Desgleichen ist Kama die Beschäftigung der Hetären. Sie müssen ihn daher den beiden anderen vorziehen. Dies sind Ausnahmen von der allgemeinen Regel.
Erster Einwand
Da der Dharma sich nicht auf die Dinge dieser Welt bezieht, sind mehrere Gelehrte der Ansicht, dass darüber schicklich in einem Lehrbuch gehandelt werden könne, wie auchüber den Artha, weil er nur unter Beobachtung bestimmter Vorschriften richtig erreicht werden kann, deren Kenntnis man durch Studium und Bücher erlangt. Kama jedoch wird von den Tieren geübt, ist ihnen angeboren undüberall zu sehen. Daher braucht er nicht durch ein Buch gelehrt zu werden.
Erwiderung
Dieser Schluss ist unrichtig. Da die fleischliche Vereinigung von Mann und Weib abhängig ist, erfordert sie die Anwendung gewisser Hilfsmittel, welche das Kamashastram lehrt. In der rohen Schöpfung findet, wie wir bemerken, keine Anwendung solcher Hilfsmittel statt. Dies hängt damit zusammen, dass bei den Tieren keinerlei Zwang gilt. Die Weibchen dulden geschlechtliche Vereinigung nur zur Brunstzeit, der Akt hat keinen seelischen Gehalt.
Zweiter Einwand
Die Lokayatika (Materialisten) sagen:„Religiöse Vorschriften brauchen nicht beobachtet zu werden, denn ihr Lohn soll erst künftig kommen. Es istüberhaupt zweifelhaft, ob Taten des Dharma einen Lohn bringen. Welcher Mensch wäre wohl toll genug, einem anderen dasjenige zu geben, was er selbst in der Hand hält? Besser heute eine Taube als morgen einen Pfau. Ein Kupferstück, welche wir mit Sicherheit erlangen