: Jules Verne
: Der Kurier des Zaren Reclam Taschenbuch
: Reclam Verlag
: 9783159608044
: Reclam Taschenbuch
: 1
: CHF 10,60
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 300
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das russische Zarenreich zur Zeit Alexanders II.: Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, ist telegraphisch nicht mehr zu erreichen, doch der dortige Großfürst, der Bruder des Zaren, muss vor dem Verräter Ogareff gewarnt werden. Eine Depesche muss nach Sibirien - und überbringen soll sie der junge Offizier Michael Strogoff. Von Moskau aus geht es quer durch das Reich nach Irkutsk in Sibirien. Eine abenteuerliche Reise, die in die Weiten des russischen Zarenreichs führt und für den unerschrockenen Kurier zahlreiche Intrigen und Gefahren bereithält. Eine Erzählung über die Entschlossenheit und den Mut eines Helden, der vor dem historischen Hintergrund der Eroberung Sibiriens seine Mission, sein Leben und seine Liebe verteidigen muss. - Mit einer kompakten Biographie des Autors

Jules Verne (8.2.1828 Nantes - 24.3.1905 Amiens), französischer Schriftsteller, gilt mit seinen Reise- und Abenteuerromanen wie 'Voyage au centre de la Terre' (dt. 'Reise zum Mittelpunkt der Erde') und 'Vingt mille lieues sous les mers' (dt. '20.000 Meilen unter dem Meer') als ein Wegbereiter der Science-Fiction. Verne pflegte bereits während seines Studiums in Paris Kontakte zur Literatenszene etwa zu Alexandre Dumas und dessen Sohn. 1852 wird er Intendant des Théâtre-Lyriques. 1862 lernt er den Verleger Pierre-Jules Hetzel kennen, der ihm mit der Veröffentlichung seines Romans 'Cinq semaines en ballon' (dt. 'Fünf Wochen im Ballon') zum Durchbruch verhilft. Weitere bekannte Titel sind 'De la Terre à la Lune' (dt. 'Von der Erde zum Mond') oder der politische Kriminalroman 'Michel Strogoff' (dt. 'Der Kurier des Zaren'). Seinen größten Erfolg feierte Verne mit dem 1872 erschienen 'Le Tour du monde en 80 jours' (dt. 'Reise um die Erde in 80 Tagen').Mit Jules Verne ist bis heute das Motiv phantastischer Weltreisen verbunden, wenn Segler, denen die schnellste Weltumrundung gelingt, mit der Jules Verne Trophy geehrt werden oder ein Gebirgszug auf der Île de la Possession im Indischen Ozean sowie der Mont Verne in der Antarktis nach ihm benannt werden. Auch verbindet man mit Verne, der in seinen Romanen die Technik seiner Zeit in die Zukunft weiterdachte, technische Errungenschaften: So trägt das erste 'Automated Transfer Vehicle' (kurz ATV), ein unbemannter Raumtransporter, seinen Namen. Seit 1961 ist ein Mondkrater nach ihm benannt. 1999 wird Verne posthum in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.

Zweites Kapitel

Russen und Tataren


Nun bestand also kein Zweifel mehr: Eine furchtbare Invasionsarmee drohte die sibirischen Provinzen der russischen Oberherrschaft zu entreißen. In diesem ungeheuer weiten Steppenland, das sich vom Ural bis zum Pazifischen Ozean und vom Arktischen Meer bis China erstreckt, lebten damals etwa zwei Millionen Menschen. Das ganze Gebiet war in sieben Gouvernements und Distrikte aufgeteilt, über die zwei Generalgouverneure als Vertreter des Zaren geboten. Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, war der Sitz des einen, während der andere in Tobolsk in Westsibirien residierte. Ein Nebenfluss des Jenissei, die Tschuna, bildete die Grenze zwischen den beiden Herrschaftsbereichen.

Sibirien war sowohl Deportationsort für Verbrecher wie Exil für jene, die ein Ukas aus der Heimat verbannt hatte. Noch durchquerte keine Eisenbahn das riesige Land, obschon man bereits wusste, dass es unermesslich reiche Bodenschätze barg. Man hatte nur zwei Möglichkeiten zu reisen: sommers mit dem Pferdefuhrwerk, winters mit dem Schlitten. Eine direkte Verbindung zwischen der westlichen und der östlichen Grenze Sibiriens gab es allerdings schon, nämlich die Telegraphenleitung. Dieser Draht war nicht weniger als8536 Kilometer lang und führte über die wichtigsten Stationen Sibiriens: Jekaterinburg, Tobolsk, Omsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk bis zur Grenze der Mongolei.

Diese ungeheuer wichtige Leitung war unterbrochen worden, zuerst jenseits von Tomsk und nun auch noch zwischen Tomsk und Kolywan. Nur ein Kurier konnte jetzt noch eine Verbindung zu diesen Orten schaffen. General Kissoff war bereits auf der Suche nach dem geeigneten Mann.

Zunächst jedoch erschien der Chef der Polizei im kaiserlichen Arbeitskabinett.

»Treten Sie ein, General«, sagte der Zar kurz, »und teilen Sie mir alles mit, was Sie über Iwan Ogareff in Erfahrung gebracht haben.«

»Ogareff ist ein äußerst gefährlicher Mann, Majestät«, begann der Polizeichef.

»Er war doch Oberst, nicht wahr, und ziemlich intelligent?«

»Hochintelligent sogar, aber vollkommen disziplinlos und von zügellosem Ehrgeiz besessen. Er ließ sich sehr bald mit einer Verschwörergruppe ein und musste von seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten, degradiert und nach Sibirien verbannt werden.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Jahren. Er durfte aber schon sechs Monate später durch einen Gnadenerlass Eurer Majestät nach Russland zurückkehren. Er ist dann noch ein zweites Mal nach Sibirien gegangen, diesmal jedoch freiwillig.«

Diesem Bericht fügte der Polizeichef mit leiserer Stimme hinzu: »Es gab einmal eine Zeit, da war die Reise nach Sibirien eine Reise ohne Wiederkehr.«

»Mag sein. Aber solange ich lebe, ist und wird Sibirien ein Land sein, aus dem man wiederkehrt.«

Der Chef der Polizei erwiderte zwar nichts, war aber ganz offensichtlich nicht einverstanden mit dieser Haltung des Zaren.

»Ist Ogareff«, fragte der Zar weiter, »nicht von Sibirien aus auch noch ein zweites Mal nach Russland zurückgekehrt?«

»Jawohl, doch den Zweck dieser Reise konnten wir nicht herausfinden. Wir haben ihn aber überwacht, denn ein Verbannter wird erst vom Tag seiner Begnadigung an wirklich gefährlich.«

Die Miene des Zaren verdüsterte sich einen Augenblick, und der Polizeichef musste fürchten, zu weit gegangen zu sein. Der Monarch überhörte jedoch die indirekten Vorwürfe gegen seine Innenpolitik und fuhr mit der Befragung fort.

»Wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt, und was trieb er?«

»Er war in Perm, schien keine bestimmte Beschäftigung zu haben, erregte aber auch durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht. Er verließ die Stadt im März mit unbekanntem Ziel, und seither haben wir ihn aus den Augen verloren.«

»Ich aber nicht!«, unterbrach der Zar den Bericht. »Man hat mir, unter Umgehung der Polizeibehörden, anonym gewisse Hinweise zukommen lassen, und angesichts der Ereignisse jenseits der Grenze habe ich allen Grund, an ihre Richtigkeit zu glauben.«

»Wollen Majestät damit sagen, dass Iwan Ogareff bei der Invasion der Tataren die Hand im Spiele hat?«

»Allerdings, General. Und ich kann Ihnen noch mehr sagen: Iwan Ogareff verließ Perm, um den Ural zu überqueren und nach Sibirien in die Kirgisische Steppe zu gehen. Dort gelang es ihm, die Nomadenvölker aufzuwiegeln. Daraufhin reiste er weiter nach Süden bis in das unabhängige Turkestan. Er fand die Khans von Buchara, Kokand und Kunduz bereit, ihre Tatarenhorden in unsere sibirischen Provinzen zu werfen und gemeinsam mit den Kirgisen den Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien zu entfesseln. Wir sind vom Ausbruch dieser Erhebung vollkommen überrascht worden. Alle Verbindungswege zwischen Ost- und Westsibirien sind abge