Zweites Kapitel
Russen und Tataren
Nun bestand also kein Zweifel mehr: Eine furchtbare Invasionsarmee drohte die sibirischen Provinzen der russischen Oberherrschaft zu entreißen. In diesem ungeheuer weiten Steppenland, das sich vom Ural bis zum Pazifischen Ozean und vom Arktischen Meer bis China erstreckt, lebten damals etwa zwei Millionen Menschen. Das ganze Gebiet war in sieben Gouvernements und Distrikte aufgeteilt, über die zwei Generalgouverneure als Vertreter des Zaren geboten. Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, war der Sitz des einen, während der andere in Tobolsk in Westsibirien residierte. Ein Nebenfluss des Jenissei, die Tschuna, bildete die Grenze zwischen den beiden Herrschaftsbereichen.
Sibirien war sowohl Deportationsort für Verbrecher wie Exil für jene, die ein Ukas aus der Heimat verbannt hatte. Noch durchquerte keine Eisenbahn das riesige Land, obschon man bereits wusste, dass es unermesslich reiche Bodenschätze barg. Man hatte nur zwei Möglichkeiten zu reisen: sommers mit dem Pferdefuhrwerk, winters mit dem Schlitten. Eine direkte Verbindung zwischen der westlichen und der östlichen Grenze Sibiriens gab es allerdings schon, nämlich die Telegraphenleitung. Dieser Draht war nicht weniger als8536 Kilometer lang und führte über die wichtigsten Stationen Sibiriens: Jekaterinburg, Tobolsk, Omsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Irkutsk bis zur Grenze der Mongolei.
Diese ungeheuer wichtige Leitung war unterbrochen worden, zuerst jenseits von Tomsk und nun auch noch zwischen Tomsk und Kolywan. Nur ein Kurier konnte jetzt noch eine Verbindung zu diesen Orten schaffen. General Kissoff war bereits auf der Suche nach dem geeigneten Mann.
Zunächst jedoch erschien der Chef der Polizei im kaiserlichen Arbeitskabinett.
»Treten Sie ein, General«, sagte der Zar kurz, »und teilen Sie mir alles mit, was Sie über Iwan Ogareff in Erfahrung gebracht haben.«
»Ogareff ist ein äußerst gefährlicher Mann, Majestät«, begann der Polizeichef.
»Er war doch Oberst, nicht wahr, und ziemlich intelligent?«
»Hochintelligent sogar, aber vollkommen disziplinlos und von zügellosem Ehrgeiz besessen. Er ließ sich sehr bald mit einer Verschwörergruppe ein und musste von seiner Kaiserlichen Hoheit, dem Großfürsten, degradiert und nach Sibirien verbannt werden.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Er durfte aber schon sechs Monate später durch einen Gnadenerlass Eurer Majestät nach Russland zurückkehren. Er ist dann noch ein zweites Mal nach Sibirien gegangen, diesmal jedoch freiwillig.«
Diesem Bericht fügte der Polizeichef mit leiserer Stimme hinzu: »Es gab einmal eine Zeit, da war die Reise nach Sibirien eine Reise ohne Wiederkehr.«
»Mag sein. Aber solange ich lebe, ist und wird Sibirien ein Land sein, aus dem man wiederkehrt.«
Der Chef der Polizei erwiderte zwar nichts, war aber ganz offensichtlich nicht einverstanden mit dieser Haltung des Zaren.
»Ist Ogareff«, fragte der Zar weiter, »nicht von Sibirien aus auch noch ein zweites Mal nach Russland zurückgekehrt?«
»Jawohl, doch den Zweck dieser Reise konnten wir nicht herausfinden. Wir haben ihn aber überwacht, denn ein Verbannter wird erst vom Tag seiner Begnadigung an wirklich gefährlich.«
Die Miene des Zaren verdüsterte sich einen Augenblick, und der Polizeichef musste fürchten, zu weit gegangen zu sein. Der Monarch überhörte jedoch die indirekten Vorwürfe gegen seine Innenpolitik und fuhr mit der Befragung fort.
»Wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt, und was trieb er?«
»Er war in Perm, schien keine bestimmte Beschäftigung zu haben, erregte aber auch durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht. Er verließ die Stadt im März mit unbekanntem Ziel, und seither haben wir ihn aus den Augen verloren.«
»Ich aber nicht!«, unterbrach der Zar den Bericht. »Man hat mir, unter Umgehung der Polizeibehörden, anonym gewisse Hinweise zukommen lassen, und angesichts der Ereignisse jenseits der Grenze habe ich allen Grund, an ihre Richtigkeit zu glauben.«
»Wollen Majestät damit sagen, dass Iwan Ogareff bei der Invasion der Tataren die Hand im Spiele hat?«
»Allerdings, General. Und ich kann Ihnen noch mehr sagen: Iwan Ogareff verließ Perm, um den Ural zu überqueren und nach Sibirien in die Kirgisische Steppe zu gehen. Dort gelang es ihm, die Nomadenvölker aufzuwiegeln. Daraufhin reiste er weiter nach Süden bis in das unabhängige Turkestan. Er fand die Khans von Buchara, Kokand und Kunduz bereit, ihre Tatarenhorden in unsere sibirischen Provinzen zu werfen und gemeinsam mit den Kirgisen den Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien zu entfesseln. Wir sind vom Ausbruch dieser Erhebung vollkommen überrascht worden. Alle Verbindungswege zwischen Ost- und Westsibirien sind abge