Erinnerung an die Schöne Politik
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich dieses kurze rhetorische Vorspiel zur Aufführung von Beethovens 9. Symphonie durch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg an diesem 3. Oktober des Jahres 2000 mit der Bemerkung eröffnen, dass niemand so sehr wie der Redner die Seltsamkeit der hier versuchten Konfiguration von Rede und Musik empfinden könnte – es fehlt, scheint mir, nicht viel dazu, dass man einen Verstoß gegen die guten Sitten des Konzertbetriebs vermuten dürfte oder gar ein Attentat auf das Grundrecht der Musik, ausschließlich mit ihren Mitteln für sich zu sprechen. Seit wann hätte ein bedeutendes Orchester es nötig gehabt, sein Programm durch eine Verbalnote moderieren zu lassen? Seit wann hätten Werke der Tonkunst sich darauf einlassen müssen, mit musikfernen Ergänzungen aufzutreten? Die einzige Rechtfertigung für ein Unternehmen dieser Art lässt sich aus seinem Anlass herleiten, aus der Tatsache mithin, dass wir den 3. Oktober schreiben, den Tag der Deutschen Einheit, diesen Gedenktag zum Abschluss des Vertrages über die Herstellung der politischen Union zwischen den beiden deutschen Staaten, die aus den Dramen der Jahrhundertmitte hervorgegangen waren. Ein Festtag also, der ein politisches Gedächtnis statuiert, ein Tag gleichwohl, zu dem den meisten deutschen Bürgern heute, zehn Jahre nach der Ratifizierung des Dokuments, bemerkenswert wenig Festwürdiges einfällt, wie die Redeübungen der jubiläumspflichtigen Klasse unseres Landes zeigen. Ein Tag, an dem man vielleicht wirklich nichts Besseres tun kann, als Beethoven zu spielen – so wie es hier und wohl auch anderswo zu dieser Stunde geschieht, den Beethoven der 9. Symphonie, wie sich versteht, eines Stücks, das sich aufzwingt, weil es seit jeher als ein Konzentrat politischer Festkultur angesehen werden konnte. Daher ist die hier gewählte Konfiguration von Rede und Musik wohl doch nicht nur äußerlich gesucht, sie ist nicht nur eine Veranstalterlaune. Weil eben die 9. Symphonie, zumal in ihrem grenzenlos berühmten Chorfinale, selbst schon ein musikrhetorisches, ja ein musikpolitisches Ereignis darstellt, liegt keine gänzliche Verfehlung vor, weder in Bezug auf die Situation noch auf das Genre, wenn der Aufführung des Stückes selbst hier einige Worte im kommentierenden und reflektierenden Stil vorausgeschickt werden, Worte, die nicht die musikalische, sondern, wenn man so sagen darf, die ideologische Partitur des Werkes betreffen. Es genügt, uns zu vergegenwärtigen, wieso die 9. Symphonie seit ihrer triumphalen Wiener Uraufführung im Jahr 1824 das bekannteste und wirkungsmächtigste Tonkunstwerk der Neuzeit hat werden können: Ihr geradezu numinoser und eben durch sein Übermaß prekärer Erfolg ist nicht zuletzt in dem Umstand zu suchen, dass sie von sich her, an den bewussten, den vokalischen Stellen zumindest, einen plädierenden Charakter besitzt, der auf Zustimmung zu außermusikalischen Ideen, auf enthusiastischen Konsensus, auf Überwältigung durch Programmatisches angelegt ist. Man darf bemerken, dass diese musikpolitische Konsensuswelle noch in der Gegenwart so mächtig rollt, wie selbst das 19. Jahrhundert es kaum erträumen konnte. Es ist kein Zufall, wenn nach der Wahl des Chorfinales der 9. Symphonie zur Europahymne, anfangs der siebziger Jahre, jetzt auch die Vereinten Nationen in diesem Stück ihr musikalisches Erkennungszeichen gefunden haben. Selbst wenn man also nicht verkennt, dass mit der großen Musik als solcher nicht zu reden ist, heben sich in den thesenhaften Überschüssen von Beethovens »politischer Kantate« deutliche Ansatzpunkte ab, die einem gesprochenen Zusatz entgegenkommen.
Ich möchte mir im folgenden die Freiheit nehmen, an die historischen Prämissen des musiksemantischen Komplexes zu erinnern, aus dem die 9. Symphonie und ihreOde an die Freude hervorgegangen sind. Der Ausdruck Erinnerung ist hier in besonderer Weise am Platz, weil es zu diesem Zwecke nötig ist, weitgehend vergessene Verhältnisse zur Sprache zu bringen. Wenn wir uns an den generativen Pol des beethovenschen Kunstereignisses versetzen wollen, so gilt es, um mit Hegel zu reden, einen »Weltzustand« heraufzubeschwören, in dem der Konsensus noch Enthusiasmus hieß. Zu jener Zeit war es unter Bürgern nicht so sehr darum zu tun, einer Meinung zu sein, sondern einer Ergriffenheit. Erinnerung ist nötig, um imaginär zurückzukehren zu jenem Stand der Dinge, in dem die progressiven Stimmen der Gesellschaft noch so gut wie alles, was sie zu sagen hatten, im Modus der Antizipation vorbringen mussten – sofern sie nicht schon