: Patry Francis
: Die Schatten von Race Point
: mareverlag
: 9783866483170
: 1
: CHF 8,70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 592
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Liebe, die stärker ist als das Leben. Ein Zwischenfall, der alles verändert. Hallie Costa wächst in einer Umgebung voller Geborgenheit auf: Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebt sie allein mit ihrem geliebten Vater Nick in einer Kleinstadt am äußersten Zipfel von Cape Cod, wo der Arzt dank seiner guten Ratschläge bekannt ist wie ein bunter Hund. Als die portugiesische Fischercommunity schwer erschüttert wird durch den Mord an der Mutter von Gus Silva, nimmt Hallie sich ihres Mitschülers an. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Neil Gallagher bilden sie bald ein unzertrennliches Trio. Aus Gus' und Hallies Freundschaft wird Liebe - bis ein Zwischenfall am Strand von Race Point das Paar auseinandertreibt und Gus eine folgenreiche Entscheidung trifft: Er tritt dem Priesterseminar bei. Jahre später ist er ein geschätzter Seelsorger. Doch dann taucht eine mysteriöse Frau auf, die die Nähe zu dem jungen Priester sucht, und plötzlich setzt ein weiterer Mordfall Gus' gesamte Existenz aufs Spiel. Kann Hallie ihrem früheren Freund noch einmal helfen, bevor es zu spät ist? 'Die Schatten von Race Point' ist eine von der Salzwasserluft Cape Cods durchdrungene Familien- und Freundschaftssaga, ein Roman voll dunkler Geheimnisse und ungeahnter Wendungen, der in atemberaubender Weise zeigt, wie dicht Liebe und Verrat beieinanderliegen können.

Patry Francis, geboren 1950 in Brockton, Massachusetts, lebt mit ihrer Familie auf Cape Cod. Ihre Erzählungen und Gedichte erschienen in zahlreichen literarischen Zeitschriften und wurden mehrfach für den Pushcart-Preis nominiert; außerdem erhielt sie Prosa- und Lyrik-Stipendien. Ihr Debütroman 'Tagebuch einer Lügnerin' wurde in sieben Sprachen übersetzt; 'Die Schatten von Race Point' ist ihr zweiter Roman. Claudia Feldmann, geboren 1966, übersetzt aus dem Englischen und Französischen. Unter anderem hat sie Eoin Colfer und Ewan Morrison ins Deutsche übertragen. Für mare übersetzte sie zuletzt 'Der Duft des Regens' von Frances Greenslade (2012) und 'Eisblaue See, endloser Himmel' von Morgan Callan Rogers (2014).

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ES WAR ENDE Oktober, die erste kalte Nacht des Jahres, als die neunjährige Hallie Costa dem tanzenden Lichtschein ihrer Taschenlampe die Dachtreppe hinauf folgte, unwiderstehlich angezogen von dem schwarzen Himmel, dem brackigen Geruch des Windes, der in Böen von der Bucht herüberwehte, und der Gesellschaft des Möwerichs, der neben dem Schornstein schlief. Sie erkannte ihn an dem leicht krummen Flügel und an seinem taumelnden Flug – laut der Diagnose ihres Vaters die Folge einer alten Verletzung. AsaQuebrada nannte er ihn. Gebrochener Flügel.

Hallie war schon öfter auf dem Dach gewesen, aber etwas war anders in dieser Nacht. Sie würde nie herausfinden, ob sie von der plötzlichen Kälte aufgewacht war oder von einem Geräusch, das sich so verstohlen wie das Mondlicht in ihr Zimmer geschlichen hatte.Hat da jemand gesungen? Als sie die Augen öffnete und sich im Bett aufsetzte, war alles still. Aus irgendeinem Grund dachte sie daran, wie die alten Leute weinten, wenn beim alljährlichen portugiesischen Fest Fado gespielt wurde.Saudade, wie ihre Großtante Del es nannte: Heimweh-Musik. Doch ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es dabei um mehr als nur einen Ort ging. Es war eine tiefe Sehnsucht nach allem, was verloren war und niemals zurückkommen würde.

Als sie das Geräusch gehört hatte, hatte Hallie die Lampe angeschaltet und die Dinge in ihrem Zimmer gemustert. Alles war an seinem Platz. Die leuchtenden Zahlen ihres Weckers zeigten 3:07 Uhr an. Der pflichtbewusste Teil in ihr, den sie von den Costas geerbt hatte, ermahnte sie, dass morgen Schule war. Doch um diese Zeit gewann der ungebärdige Geist ihrer Mutter stets die Oberhand. Sie knipste das Licht wieder aus, holte die Taschenlampe unter dem Bett hervor und nahm ihre Jacke von dem Haken, der wie eine Muschel geformt war.

Normalerweise achtete sie darauf, ihren Vater nicht zu wecken, wenn sie in der Dunkelheit umherschlich. Doch in dieser Nacht ging sie leise durch den Flur zu seinem Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und sie überlegte, ob sie zu ihm ins Bett krabbeln sollte. Sie konnte seine Wärme beinahe spüren, seinen Arm unter ihrem Nacken, und sie hörte förmlich sein verschlafenes Gemurmel.Schlecht geträumt, Spatz?

War es das? Hatte sie schlecht geträumt? Sie knöpfte die Jacke zu, denn die Kälte hatte sich im Haus breitgemacht. Dann sah sie auf ihre blassen Füße hinunter und wünschte, sie hätte ihre roten Turnschuhe angezogen. Ihr Vater drehte sich mit einem Stöhnen im Bett um, als ob er ihre Anwesenheit spürte. Wenn sie noch eine Sekunde länger dort stehen blieb, würde er ganz sicher die Augen öffnen.

Dem Schild zufolge, das an seiner Praxis hing, war Nicolao COSTA ARZT FüR ALLGEMEINMEDIZIN, aber seine Patienten kannten ihn auch als Psychologen mit dem Spezialg