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ES WAR ENDE Oktober, die erste kalte Nacht des Jahres, als die neunjährige Hallie Costa dem tanzenden Lichtschein ihrer Taschenlampe die Dachtreppe hinauf folgte, unwiderstehlich angezogen von dem schwarzen Himmel, dem brackigen Geruch des Windes, der in Böen von der Bucht herüberwehte, und der Gesellschaft des Möwerichs, der neben dem Schornstein schlief. Sie erkannte ihn an dem leicht krummen Flügel und an seinem taumelnden Flug – laut der Diagnose ihres Vaters die Folge einer alten Verletzung. AsaQuebrada nannte er ihn. Gebrochener Flügel.
Hallie war schon öfter auf dem Dach gewesen, aber etwas war anders in dieser Nacht. Sie würde nie herausfinden, ob sie von der plötzlichen Kälte aufgewacht war oder von einem Geräusch, das sich so verstohlen wie das Mondlicht in ihr Zimmer geschlichen hatte.Hat da jemand gesungen? Als sie die Augen öffnete und sich im Bett aufsetzte, war alles still. Aus irgendeinem Grund dachte sie daran, wie die alten Leute weinten, wenn beim alljährlichen portugiesischen Fest Fado gespielt wurde.Saudade, wie ihre Großtante Del es nannte: Heimweh-Musik. Doch ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es dabei um mehr als nur einen Ort ging. Es war eine tiefe Sehnsucht nach allem, was verloren war und niemals zurückkommen würde.
Als sie das Geräusch gehört hatte, hatte Hallie die Lampe angeschaltet und die Dinge in ihrem Zimmer gemustert. Alles war an seinem Platz. Die leuchtenden Zahlen ihres Weckers zeigten 3:07 Uhr an. Der pflichtbewusste Teil in ihr, den sie von den Costas geerbt hatte, ermahnte sie, dass morgen Schule war. Doch um diese Zeit gewann der ungebärdige Geist ihrer Mutter stets die Oberhand. Sie knipste das Licht wieder aus, holte die Taschenlampe unter dem Bett hervor und nahm ihre Jacke von dem Haken, der wie eine Muschel geformt war.
Normalerweise achtete sie darauf, ihren Vater nicht zu wecken, wenn sie in der Dunkelheit umherschlich. Doch in dieser Nacht ging sie leise durch den Flur zu seinem Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und sie überlegte, ob sie zu ihm ins Bett krabbeln sollte. Sie konnte seine Wärme beinahe spüren, seinen Arm unter ihrem Nacken, und sie hörte förmlich sein verschlafenes Gemurmel.Schlecht geträumt, Spatz?
War es das? Hatte sie schlecht geträumt? Sie knöpfte die Jacke zu, denn die Kälte hatte sich im Haus breitgemacht. Dann sah sie auf ihre blassen Füße hinunter und wünschte, sie hätte ihre roten Turnschuhe angezogen. Ihr Vater drehte sich mit einem Stöhnen im Bett um, als ob er ihre Anwesenheit spürte. Wenn sie noch eine Sekunde länger dort stehen blieb, würde er ganz sicher die Augen öffnen.
Dem Schild zufolge, das an seiner Praxis hing, war Nicolao COSTA ARZT FüR ALLGEMEINMEDIZIN, aber seine Patienten kannten ihn auch als Psychologen mit dem Spezialg