Der Königsweg
In der ersten Novemberwoche des Jahres 1899 kamDie Traumdeutung in den Buchhandel.[6] Als Erscheinungsjahr hatte der Verlag 1900 angegeben, damit man es nicht gleich als Buch aus dem vorigen Jahrhundert abstempeln würde. Sehr hoch war die Auflage nicht – sechshundert Exemplare – und es dauerte auch eine ganze Weile, bis sie alle ihren Weg zu einem Käufer gefunden hatten. Erst 1909 wurde eine zweite Auflage benötigt.
Wer heute noch einen Erstdruck erwerben möchte, wird tief in den Beutel greifen müssen. Ab und zu werden antiquarisch noch Exemplare angeboten, sie erzielen Preise über fünftausend Euro. Die nachfolgenden Auflagen sind deutlich weniger selten. Die Auflagen stiegen und folgten in kurzen Abständen. 1930 erschien die achte und die letzte, die Freud selbst noch überarbeitete.
Zu der Zeit, als Freud sich in Ausbildung zum Neurologen befand und seine Praktika im physiologischen Labor ableistete, entsprach das Äußere wissenschaftlicher Instrumente ihrer Funktion, aber auch ästhetischen Ansprüchen. Sie wurden in Messing oder Bronze ausgeführt, in Glas und glänzendem Mahagoni, wie es dem Stil ihrer Zeit entsprach. Was sie auch tun sollten – elektrische Reize messen oder Reaktionszeiten registrieren –, die Form der Instrumente besaß immer eine gewisse Anmut. Einem solchen Instrument ähnelt Freuds Traumtheorie. Wer in derTraumdeutung zu lesen beginnt – und natürlich bereit ist, Freuds Ausgangspunkte zu akzeptieren –, sieht ein kunstvoll entworfenes Instrument, dessen Achsen und Räder elegant ineinandergreifen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch bei einer zweiten, weniger bekannten Veröffentlichung Freuds über seine Traumtheorie. Noch kein Jahr nach dem Erscheinen derTraumdeutung beschloss er, besorgt über die schwache Resonanz, einen kurzen Abriss seines Hauptwerks zu verfassen. Dieses Mal beschränkte Freud sich auf die essenziellen Mechanismen der Entstehung und Deutung des Traums, ohne historische Darstellungen und ausführliche Analysen seiner eigenen Träume.Über den Traum erschien über mehrere Ausgaben in einer psychiatrischen Zeitschrift und zählte kaum vierzig Seiten. Der Abriss war im Vergleich zum großen Werk wie eine Entwurfsskizze zum Instrument selbst.[7]
Seine Traumtheorie, schrieb Freud, sei aus einer Methode entstanden, die ihren Wert bereits bei der Behandlung von Wahnzuständen und Hysterie bewiesen habe, die freie Assoziation. Er lud seine Patienten ein, ungehemmt zu erzählen, was ihnen gerade in den Sinn kam, so willkürlich und trivial diese Einfälle auch schienen. Bei der Analyse seiner eigenen Träume hatte er gemerkt, dass gerade diese Assoziationen alles Mögliche auslösten, halb vergessene Erinnerungen, Impulse, Gefühle, Stimmungen, Sehnsüchte. Das alles stecke nicht im Traum selbst, sondern werde durch ihn hervorgerufen. Der Traum, wie er in der Erinnerung verfügbar sei, der manifeste Traum, unterscheide sich von dem Traum, der die wirklichen Traumgedanken enthielte, der latente Traum. Die Übertragung oder die Darstellung des latenten Traumgedankens im manifesten Traum nannte er »Traumarbeit«, das Wieder-ungeschehen-Machen desselben »analytische Arbeit«.
Kinderträume sind meist noch einfache, unverhüllte Wunschträume. Ein Junge, der seinem Onkel ein Körbchen mit Kirschen hatte geben müssen und selbst nur ein paar davon probieren durfte, träumte in dieser Nacht, er habe alle Kirschen aufgegessen. Ein Mädchen, das bei seiner Tante übernachtete und in einem großen Bett geschlafen hatte, träumte, sie habe in einem viel zu kleinen Bett gelegen, zweifelsohne der Ausdruck ihres Wunsches, jetzt schon »groß« zu sein. Diese Träume zeigen in ihrer Durchsichtigkeit zwei Eigenschaften, die auch die Träume Erwachsener kennzeichnen. Sie schließen an das Leben am Tag an, meistens an etwas, das am Tag zuvor gesc