: Giuliano Musio
: Scheinwerfen
: Luftschacht Verlag
: 9783902844811
: 1
: CHF 10.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 404
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es handelt sich sicher um einen der ungewöhnlichsten Familienbetriebe im heutigen Bern: Durch bloße Berührung können die Weingarts verschüttete Erinnerungen anderer Menschen sehen. Aber was als Geschäft gut funktioniert, wird für die Beteiligten mehr und mehr zur persönlichen Falle. Eine Gabe wird zum Fluch, Erinnerungen werden zum Verhängnis. Humorvoll abgründig und mit realistischer Prägnanz erzählt Giuliano Musio von der fatalen Macht der Erinnerung. Das 'Scheinwerfen' vererbt sich in der Familie Weingart seit Generationen und wurde für einige von ihnen inzwischen zur guten Lebensgrundlage. Julius, studierter Psychologe und in mancher Hinsicht ein Spätzünder, versucht mit trauriger Verzweiflung den Ansprüchen des Geschäfts gerecht zu werden und hinter das Geheimnis zu kommen, das seine Freundin Sonja in letzter Zeit immer stärker zu belasten scheint. Sonja ist gleichzeitig seine Cousine und arbeitet ebenfalls in der Praxis, genauso wie sein Bruder Toni, der mit seiner Homosexualität hadert und sich auf eine problematische Vereinbarung mit dem Sohn eines Kunden einlässt. Nur der plötzlich auftauchende Halbbruder Res ist grundsätzlich mehr als zufrieden mit sich und der Welt, was aber vor allem an einem geistigen Manko und einer daraus resultierenden, ganz eigenen Wirklichkeit liegt. Die Geschehnisse um sie alle haben mehr miteinander zu tun, als sich die Brüder zunächst vorstellen können. Ihre Gabe, fremde Erinnerungen zu sehen, wird die einzelnen Fäden nach und nach zusammenspinnen. Aber es werden Erinnerungen sein, die vielleicht besser weiterhin geruht hätten. 'Scheinwerfen' ist Kanditat für die HOTLIST 2015 (als eines von 30 Büchern aus 171 Einreichungen) Die Hotlist ist zu einem der wichtigsten Instrumente geworden, um das zu zeigen, was die unabhängigen Verlage für den Reichtum, die Qualität und den Erfolg der Buchkultur im deutschsprachigen Raum leisten.

Giuliano Musio, *1977 in der Nähe von Bern. Er hat Germanistik und Anglistik studiert und publizierte bisher in Anthologien und Literaturzeitschriften wie Manuskripte und Entwürfe. Er las in der Endrunde des Open Mike Berlin und erhielt für seine Texte mehrere Preise und Stipendien. Weil er das Surren von Kaffeemaschinen und grammatische Phänomene wie das Zustandspassiv mag, arbeitete er als Kellner und ist heute als Korrektor bei der NZZ tätig. Scheinwerfen ist sein Debütroman. Titel bei Luftschacht: Scheinwerfen (Roman, 2015) www.giulianomusio.com www.facebook.com/giulianomusi

FOLGE 2


VÄTER


Julius warf Sonja mit Wucht zu Boden, setzte sich auf sie, drückte sie an den Schultern ins Gras. Sie schrie, versuchte, ihn in den Arm zu beißen. Toni kniete sich hin und legte den Goldfisch auf eine der Steinplatten am Rand des Teichs. Wäre Sonja ihnen mit ihrem Tierschutzgerede nicht so auf die Nerven gegangen, hätten sie dem Fisch auch nichts getan. Nun krümmte er sich und zuckte. Toni ließ die Lupe über ihn gleiten, bis er mit dem leuchtenden Punkt das Auge erreicht hatte. Eine schwarze Flüssigkeit trat aus, rann über die roten und weißen Schuppen. Er warf den Fisch zurück in den Teich, wischte sich die Hand im Gras ab und sagte: „Du kannst sie loslassen.“ Julius stieg von ihr runter und sie stürzte sich schreiend auf Toni. Dann die scharfe Stimme seiner Mutter. Sie stand mit strengem Blick am Fenster, befahl Julius, sofort zu ihr kommen.

Als er das Haus betrat, schaute sie noch immer hinaus in den Garten. Leise sagte er: „Es war Tonis Idee.“

„Ich habe einen Anruf aus Portugal bekommen“, sagte sie. Sie schloss das Fenster, setzte sich hin und teilte ihm mit, was mit seinem Vater geschehen war. Und mit Sonjas.

„In den nächsten Stunden will ich nicht gestört werden. Von keinem von euch. Du gehst jetzt wieder raus und informierst die anderen. Nein, warte. Besser, du schickst Sonja nach Hause. Und dann erzählst du es Toni, aber vorsichtig. Du bist vierzehn. Alt genug, um etwas Verantwortung zu übernehmen.“

An diesem Abend begann Julius, eine Zeittafel zu schreiben. Am Computer erstellte er eine Tabelle, die mit dem Urknall begann und bis in die Gegenwart führte. Er trug alles ein, was ihm wichtig schien: die Entstehung der Erde, die Dinosaurier, den Untergang Roms, die Entdeckung Amerikas, Hitler, Elvis, seine eigene Geburt und schließlich die beiden Todesfälle, gefolgt von vielen leeren Zeilen für die Zukunft.

Während er daran arbeitete, sprang seine Mutter aus dem Fenster. Toni hatte es mit angesehen. Sie wurde von der Thuja und vom Kirschlorbeer abgefedert, zog sich nur ein paar Schürfungen zu; und ein blaues Auge, weil sie am Ende noch mit dem Kopf gegen einen Gartenzwerg geknallt war.

Wenn Julius heute an diesen Tag zurückdachte, dann erinnerte er sich an die neonfarbenen Armreife, die Sonja getragen hatte, und an ihr T-Shirt mit einem Bild von New Kids on the Block. Versuchte er aber, sich ihr damaliges Gesicht vorzustellen, dann sah er nur die Sonja der Gegenwart vor sich. Als hätte es das junge Mädchen nie gegeben.

Eine schmale Landstraße führte durch den Wald. Kieselsteine, Fahrspuren, Pfützen, die Rinden der Baumstämme; im Lichtkegel der Scheinwerfer erschien alles in fremdartigen Konturen, bevor es wieder in der Dunkelheit verschwand. Aus dem Autoradio eine leise Frauenstimme, von einem Rauschen durchsetzt. Julius kannte die Strecke.

Sonja hatte lange schweigend