Ein kleines Dorf im Nordosten Chinas – April 1900
Ihr ganzes Leben schon war Amy an die heftigen Regenfälle gewöhnt. Sie ließen die Flüsse über die Ufer treten, und die meist armseligen Hütten fielen den Wassermassen zum Opfer. Regelmäßig waren auch Menschenleben zu beklagen. Dennoch reagierten die Einwohner auf die immer wiederkehrenden Naturereignisse gelassen. Regen war lebensnotwendig. Er tränkte die ausgedehnten Reisfelder, denn ohne Reis konnte niemand überleben. Heute jedoch kauerte Amy zitternd unter ihrem Fenster und presste die Hände auf die Ohren, um das bedrohliche Prasseln der schweren Tropfen nicht mehr hören zu müssen. Das Haus war stabil gebaut und das Dach dicht, eigentlich hatte sie nichts zu befürchten, sie konnte aber nicht verhindern, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Das heutige Unwetter weckte Amys Erinnerung an den schrecklichsten Tag in ihrem zwölfjährigen Leben. Vor vier Tagen hatte es ebenfalls so stark geregnet. Auch wenn sie die Augenlider fest zusammenpresste, ließen sich die Bilder nicht aus ihrer Erinnerung verdrängen. Sie sah sie genau vor sich: ihren hochgewachsenen Vater, ihre zarte, wunderschöne Mutter mit den dunklen Haaren und den großen blauen Augen, die stets etwas melancholisch blickten. An dem verhängnisvollen Abend hatten sie gerade gegessen. Der Regen prasselte aufs Dach und schlug gegen die Fensterscheiben. Die Dienerin hatte soeben die Hauptspeise serviert, als ihr Vater aufblickte, die Stirn runzelte und nach seiner Waffe griff, die stets griffbereit neben seinem Teller lag. Amys Mutter hatte dies zwar immer missbilligt, doch war es in diesen unruhigen Zeiten besser, sich schnell verteidigen zu können, falls es notwendig werden würde. Nun hörte auch Amy die lauten Schreie und das Gegröle, das sich in das Prasseln des Regens mischte.
»Geh sofort in dein Zimmer!«, wies der Vater sie an, und Amy sprang auf, gewöhnt, den Befehlen des Vaters unverzüglich Folge zu leisten. Sie hatte gerade den Raum verlassen, als schwere Schritte über die Veranda polterten und die Tür aufgerissen wurde. Vor Schreck blieb Amy stehen und spähte durch den Türspalt, ohne selbst gesehen zu werden. Sie öffnete ihren Mund zu einem Schrei, in diesem Moment presste sich eine große Hand von hinten auf ihr Gesicht.
»Still, ganz still, sonst töten sie dich auch.«
Es war einer der Diener. Einer der wenigen verbliebenen, der es gut mit Amy meinte. Ganz im Gegensatz zu den rund zwei Dutzend Chinesen, jeder ein Gewehr im Anschlag, die nun ins Esszimmer drängten.
»Was, zum Teufel …?«, rief Amys Vater, die Pistole bereits in der Hand. Bevor er auch nur einen Schuss abfeuern konnte, mähten ihn die Gewehrkugeln nieder. Eine Sekunde später lag auch Amys Mutter in ihrem Blut.
»Lauf!« Der Diener zog die heftig strampelnde Amy zum nächsten Fenster, packte sie an der Hüfte und warf sie nach draußen in den Schlamm. »Lauf, so schnell du kannst, sonst bist du die Nächste.«
Amy rappelte sich auf. Ihr Denken war ausgeschaltet, ihre Beine bewegten sich wie von selbst. Sie hatte gerade die ersten Bäume des kleinen Waldes, der sich hinter dem Haus erstreckte, erreicht, als sie erneut Gewehrsalven und grässliche Schreie hörte. Keuchend blickte sie zurück und sah die Flammen aus den Fenstern des Hauses züngeln. Obwohl der Boden aufgeweicht war und Amy immer wieder bis zu den Knöcheln im Schlamm versank, kam sie schnell voran. Sie war jung und kräftig, und sie wusste instinktiv, dass sie schneller als die Rebellen sein musste. Es gab nur einen Ort, wo sie zumindest vorerst in Sicherheit sein würde. An die Möglichkeit, dass die Mörder auch dort gewütet haben könnten, durfte sie jetzt nicht denken …
»Wir müssen das Kind unverzüglich fortbringen …«
Die Stimme von Wu Akuma, dem Hausdiener, der ein gutes Englisch sprach und seiner Herrschaft treu ergeben war, holte sie in die Gegenwart zurück.
»Es ist zu gefährlich«, mahnte die zarte Stimme von Jane Hudson. »Sie werde