1 Rielle
Als Betzi – angeblich mit Kopfschmerzen – früher als alle anderen zu Bett ging, wusste Rielle, dass sie etwas im Schilde führte. Etwas sehr Gefährliches. Und Rielle bezweifelte, dass sie es ihrer Freundin würde ausreden können.
Also sagte sie nichts. Aber bevor sie sich zur Nachtruhe zurückzog, schlüpfte sie in die Werkstatt, nahm zwei Webkämme und hängte sie an den alten Wandteppich, der als Tür für den Raum diente, den sie sich miteinander teilten. Als das Klirren von Metall sie weckte und Betzi laut fluchte, setzte sie sich schnell auf.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein gehen lasse«, murmelte sie.
Betzi drehte sich mit raschelnden Röcken um.Und auch in dem Punkt hatte ich recht, dachte Rielle.Sie ist in ihren Kleidern zu Bett gegangen, damit ich nicht aufwache, wenn sie sich anzieht.
»Du kannst mich nicht daran hindern zu gehen«, erwiderte Betzi und entfernte die Kämme.
»Betzi, es ist zu gefährlich für …«
Aber das Mädchen beachtete sie nicht weiter und verschwand hinter dem Wandteppich. Rielle erhob sich und folgte ihr rasch. Das schwache Licht der frühen Morgendämmerung, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, erhellte kaum die staubige Luft. Die jüngere Frau hielt auf der obersten Sprosse der Leiter zum nächsten Stockwerk inne, als sie sah, dass Rielle ihr folgte.
»Warum bistdu angezogen?«
»Weil ich dich nicht allein gehen lasse.«
Die Falte zwischen den Brauen des Mädchens verschwand. »Du kommst mit?«
»Wie du schon sagtest, ich kann dich nicht daran hindern zu gehen.«
Die Falten auf ihrer Stirn waren wieder da. »Meister Grasch hat dir das aufgetragen, nicht wahr?«
»Er mag blind sein, aber er ist nicht dumm.«
Betzi zuckte die Achseln und kletterte dann die Leiter hinunter. Ihre Schuhe verursachten keinerlei Geräusch – weil sie sie an den Schnürsenkeln zusammengebunden und sich über die Schulter geworfen hatte. Rielle hatte nicht daran gedacht. Es war ziemlich unbequem gewesen, in ihren Stiefeln zu schlafen.
Sie folgte Betzi hinunter ins Wohnzimmer. Die Weberwerkstatt erstreckte sich über drei Stockwerke: Der Hauptarbeitsraum lag auf Straßenhöhe, das Wohnzimmer darüber und die Schlafzimmer ganz oben. »Wohnzimmer« war eine passende Beschreibung, da dort alles außer Schlafen und Arbeiten stattfand. Privatsphäre und genügend Platz waren ein seltenes Gut in schpetanischen Häusern. Nur die Haustür und die Tür zur Toilette waren massiv, alles andere waren Wandteppiche oder Ähnliches – die vor der Werkstatt waren so ausgeblichen, dass niemand mehr das ursprüngliche Bild darauf erkennen konnte.
Sie setzten sich auf die Bank am Ofen, und die jüngere Frau schnürte sich ihre Stiefel zu. Nicht zum ersten Mal beneidete Rielle ihre Freundin um deren zierliche Füße. Betzi kam mit ihrer Figur dem Idealbild einer Schpetanerin sehr nahe. Nicht besonders groß, wohlgeformt, mit kleinen Händen und Füßen und einem blassen, herzförmigen Gesicht, das von einer Fülle blonder Locken eingerahmt wurde, erregte sie überall Bewunderu