: Ralph Giordano
: Die zweite Schuld Oder Von der Last Deutscher zu sein
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462309386
: 1
: CHF 10.00
:
: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Aktueller denn je - der Klassiker der politischen Literatur. Ralph Giordanos erschütternde Studie untersucht die Folgen der moralischen Katastrophe, die ein Ausbleiben des Bekenntnisses zur Kollektivschuld bedeutete. Er schildert eindrücklich, wie das Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust die politische Kultur der Bundesrepublik geprägt hat. Und er weist nach, wie »der große Frieden mit den Tätern« zu einem Fundament der Staatsgründung wurde. In ihrem Nachwort beschreibt die Schriftstellerin Lena Gorelik die Aktualität dieses Buchs in einer Zeit, in der rechtsextreme Gedanken und Taten eine beängstigende Normalisierung erfahren.

Ralph Giordano wurde 1923 in Hamburg geboren. Nach der Befreiung am 4. Mai 1945 durch britische Truppen arbeitete er als Journalist und Publizist, als Fernsehdokumentarist und Schriftsteller. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Die Bertinis« (1982), »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« (1987), »Ostpreußen ade« (1994), »Deutschlandreise« (1998), »Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr« (2002) und »Erinnerungen eines Davon - gekommenen« (2007). Zuletzt erschien sein Buch »Mein Leben ist so sündhaft lang: Ein Tagebuch« (2010). Er starb am 10. Dezember 2014 in Köln.

2.


Jede zweite Schuld setzt eineerste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Diezweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird.

Denn es handelt sich nicht um einen bloß rhetorischen Prozess, nicht um einen Ablauf im stillen Kämmerlein. Die zweite Schuld hat sich vielmehr tief eingefressen in den Gesellschaftskörper der zweiten deutschen Demokratie. Kern ist das, was in diesem Buch der »große Frieden mit den Tätern« genannt wird – ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte. Das zweite Codewort, gleichsam der rote Faden von der ersten bis zur letzten Seite, ist der »Verlust der humanen Orientierung«, ein tief aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis hinein in unsere Gegenwart wirkendes Defizit. Beide Codewörter – der große Frieden mit den Tätern und der Verlust der humanen Orientierung – korrespondieren miteinander und bilden meine Betrachtungsgrundlage.

Hauptschauplatz ist die Bundesrepublik Deutschland, obwohl sich bestimmte Abläufe der zweiten Schuld auch auf die Deutsche Demokratische Republik übertragen ließen. Davon wird in einem Kapitel die Rede sein.

Hauptthema ist die historische Fehlentscheidung einer Mehrheit der heute älteren und alten Generationen, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der eigenen Rolle in ihr nicht ehrlich auseinanderzusetzen, belastende Erinnerungen abzuwerfen und sich aus einem kompromittierenden Abschnitt selbst erlebter und mitgestalteter Nationalgeschichte herauszustehlen. Dies in Mittäterschaft einer Vielzahl bundesdeutscher Politiker aller Parteien, die um der Wählerstimmen willen dem nationalen Kollektiv der Hitleranhänger bei Verdrängung und Verleugnung weit entgegengekommen sind und damit ihren Anteil zur zweiten Schuld beigetragen haben.

Gleich eingangs also entschiedener Gebrauch eines hierzulande so verpönten Reizwortes wieSchuld. Das ist gegen das feingesponnene Netz der Nachsicht, das die Verdränger – und die auf ihre Stimmen erpichten Politiker – über nunmehr fast vierzig Jahre gewoben haben, und passt deshalb nicht in den ungeschriebenen bundesdeutschen Politknigge. Der Leser soll daran früh erkennen, wie wenig Rücksicht auf solche schlechten Gewohnheiten genommen wird.

Wenn der Einwurf käme, hier werde alsoangeklagt, so widerspräche ich nicht. Das täte ich erst, wenn behauptet würde,ich erhöbe Anklage. Denn die wohnt dem Thema selbst ganz natürlich inne, geht es doch nicht etwa um moralische Kategorien allein, sondern auch um einen blutig-realen Hintergrund von nie da gewesenen Dimensionen – um Auschwitz und um alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert. Jed