2.
Jede zweite Schuld setzt eineerste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Diezweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird.
Denn es handelt sich nicht um einen bloß rhetorischen Prozess, nicht um einen Ablauf im stillen Kämmerlein. Die zweite Schuld hat sich vielmehr tief eingefressen in den Gesellschaftskörper der zweiten deutschen Demokratie. Kern ist das, was in diesem Buch der »große Frieden mit den Tätern« genannt wird – ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte. Das zweite Codewort, gleichsam der rote Faden von der ersten bis zur letzten Seite, ist der »Verlust der humanen Orientierung«, ein tief aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis hinein in unsere Gegenwart wirkendes Defizit. Beide Codewörter – der große Frieden mit den Tätern und der Verlust der humanen Orientierung – korrespondieren miteinander und bilden meine Betrachtungsgrundlage.
Hauptschauplatz ist die Bundesrepublik Deutschland, obwohl sich bestimmte Abläufe der zweiten Schuld auch auf die Deutsche Demokratische Republik übertragen ließen. Davon wird in einem Kapitel die Rede sein.
Hauptthema ist die historische Fehlentscheidung einer Mehrheit der heute älteren und alten Generationen, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der eigenen Rolle in ihr nicht ehrlich auseinanderzusetzen, belastende Erinnerungen abzuwerfen und sich aus einem kompromittierenden Abschnitt selbst erlebter und mitgestalteter Nationalgeschichte herauszustehlen. Dies in Mittäterschaft einer Vielzahl bundesdeutscher Politiker aller Parteien, die um der Wählerstimmen willen dem nationalen Kollektiv der Hitleranhänger bei Verdrängung und Verleugnung weit entgegengekommen sind und damit ihren Anteil zur zweiten Schuld beigetragen haben.
Gleich eingangs also entschiedener Gebrauch eines hierzulande so verpönten Reizwortes wieSchuld. Das ist gegen das feingesponnene Netz der Nachsicht, das die Verdränger – und die auf ihre Stimmen erpichten Politiker – über nunmehr fast vierzig Jahre gewoben haben, und passt deshalb nicht in den ungeschriebenen bundesdeutschen Politknigge. Der Leser soll daran früh erkennen, wie wenig Rücksicht auf solche schlechten Gewohnheiten genommen wird.
Wenn der Einwurf käme, hier werde alsoangeklagt, so widerspräche ich nicht. Das täte ich erst, wenn behauptet würde,ich erhöbe Anklage. Denn die wohnt dem Thema selbst ganz natürlich inne, geht es doch nicht etwa um moralische Kategorien allein, sondern auch um einen blutig-realen Hintergrund von nie da gewesenen Dimensionen – um Auschwitz und um alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert. Jed