Kapitel 2
Große Träume, kleiner Anfang
Ich persönlich finde Hüttenkäse ja eklig. Verzeihen Sie mir, aber ich bin Serbe, und wir leben für einen Frischkäse namens Kajmak. Ich sage zwar Frischkäse, aber Kajmak hat nichts mit dem abgepackten Zeug zu tun, das Sie aus dem Supermarkt kennen. Mit seiner weichen, sahnigen Textur erinnert er entfernt an Joghurt, aber kommt nicht aus der Fabrik. Wie die meisten serbischen Lebensmittel hat er eine lange Geschichte und ordentlich Cholesterin. Angeblich haben Länder mit einer turbulenten Vergangenheit die beste Küche, und das könnte eine Erklärung dafür sein, warum Sie heute trotz aller verlorenen Kriege und Eroberungen auf der Speisekarte eines guten Belgrader Cafés türkische Baklava neben österreichischer Sachertorte finden. Aber so blutig unsere Geschichte auch gewesen sein mag, mit dem Nahen Osten kann sie vermutlich nicht mithalten. Dort entwickeln die Menschen übrigens auch eine große Leidenschaft für ihr Essen. Die Israelis, Gott behüte sie, lieben Hüttenkäse. Ich finde das Zeug widerlich und klumpig, aber sie können nicht ohne ihn leben. Zum Frühstück essen sie ihn mit Rührei, zum Mittagessen mischen sie ihn unter den Salat. Aber um das Jahr2011 herum wurde er ziemlich teuer.
Das war nicht das Einzige, was die Israelis feststellten. Seit zwei Jahrzehnten hatte der einst so großzügige Staat eine schmerzhafte Privatisierungswelle erlebt und viele Sozialleistungen gestrichen. Zehntausende arme Israelis waren auf der Suche nach günstigen Wohnungen auf einem zunehmend leergefegten Wohnungsmarkt. Dieser wurde inzwischen von einer Handvoll mächtiger Bauunternehmer beherrscht, die alte Gebäude abbrachen und an deren Stelle glitzernde Hochhäuser errichteten.
Wie jeder weiß, der sich einmal mit einem Vermieter herumschlagen musste, haben Sie kaum eine Möglichkeit, Ihr Recht auf bezahlbare Mieten durchzusetzen. Wenn Sie Ihren Vermieter darauf ansprechen, verweist der Sie vermutlich einfach an die Anzeigenseiten Ihrer Tageszeitung und legt Ihnen nahe, sich etwas anderes zu suchen. Außerdem finden sich in jeder Stadt und in jedem Land viele Leute, die Gentrifizierung für eine gute Sache halten und Neubauten begrüßen. Während sich also die weniger betuchten Israelis um den letzten bezahlbaren Wohnraum stritten, zuckten viele andere nur mit den Schultern und bewunderten die eleganten neuen Gebäude, die überall aus dem Boden schossen. Die ärmeren Israelis entwickelten zwar immer größere Ressentiments gegen die neue Klasse der Superreichen mit ihren Privatjets und vornehmen Clubs, doch die meisten Bürger waren der Ansicht, dass das Leben in Israel verglichen mit dem Rest der Welt noch sehr angenehm war. Sie konnten es sich leisten, am Wochenende zu Ikea zu fahren, neue Fernseher zu kaufen und ins Ausland zu reisen.
Einige wenige Wichtigtuer – humorlose Leute, die man höflich abwimmelt, wenn man ihnen zufällig auf einer Party begegnet – ärgerten sich über die neuen Gebäude und den Geltungskonsum der israelischen Gesellschaft und forderten einen Systemwechsel oder zumindest einen Sturz der Regierung. Aber niemand hörte ihnen zu. Wie bei uns in Serbien hatten diese Spielverderber eine klare Zukunftsvision: Sie wollten in einem Land mit einem funktionierenden sozialen Netz leben, das die Schwachen auffing. Sie waren gar nicht gegen die Marktwirtschaft und waren stolz auf die erfolgreiche Industrie, vor allem die Hightech-Industrie, ihres Landes. Was sie dagegen ablehnten, war der »Schweinekapitalismus« – ein Schlagwort, das um das Jahr2010 aufkam und bald in aller Munde war. Sie hatten allerdings keine Ahnung, was sie dagegen tun konnten.
An diesem Punkt kommt Itzik Alrov ins Spiel. Wenn Israelis an ihre Helden denken, dann denken sie an braungebrannte, muskelgestählte Krieger oder an hübsche Models wie Bar Rafaeli, nicht an dürre, ultraorthodoxe Versicherungsvertreter, die sich als Sänger in der Synagoge ein paar Schekel dazuverdienen. Doch dieser Alrov war ein nachdenklicher und leidenschaftlicher Mann. Wie so viele seiner Mitbürger hatte er etwas gegen den »Schweinekapitalismus«,[5] doch er wusste, wenn er etwas bew