I.
«Warum macht man uns zu Parias?»
«Vor meinen Augen, begeifert und bespieen von hysterischen Bestien, treiben S. A.-Leute mit Peitschen am hellen Mittag einen Mann vor sich her. Er trägt weder Schuhe noch Strümpfe, keinen Rock, keine Hose, nur ein Hemd und zerrissene Unterbeinkleider», beschrieb der Nazi-Gegner Walter Gyssling in seinem Tagebuch die Szene, die sich am 10. März 1933 in München vor aller Augen abspielte und die ein Fotograf in zwei Aufnahmen festhielt.[1] Nur einen Tag nachdem die Nationalsozialisten auch in Bayern die Regierungsgewalt übernommen hatten, bot sich den Münchnern dieses Bild, das wenig später bereits um die Welt ging. Nord- und südamerikanische Zeitungen zeigten es, das im Pariser Exil von Willi Münzenberg in Auftrag gegebene und seit Juli 1933 massenhaft vertriebene «Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror» bildete es ab.
Diesem demütigenden Umzug durch die Münchener Innenstadt war am Tag zuvor ein antisemitischer Gewaltrausch vorangegangen. SA-Männer und andere demolierten die Schaufenster jüdischer Geschäfte oder beschmierten sie mit Parolen, zertrümmerten vielerorts ihre Einrichtungen, verprügelten die Ladeninhaber. Eines der Opfer war der jüdische Kaufhausbesitzer Uhlfelder. Für ihn wollte sich Michael Siegel, ein alteingesessener jüdischer Rechtsanwalt, auf dem Polizeipräsidium einsetzen. Dort allerdings hatte Heinrich Himmler als frisch installierter Polizeipräsident das Sagen. Statt dass Polizeibeamte seine Beschwerde aufnahmen und der Sache nachgingen, geriet Siegel in die Hände von SA-Männern, die nun auch in Bayern in den Rang von Hilfspolizisten aufgestiegen waren. Sie schlugen ihn blutig, zerschnitten seine Kleider und hängten ihm ein Schild um, mit dem sie ihn dann durch die Stadt führten.[2] «Der Jude soll froh sein, daß ich ihm nicht die Kehle durchgeschnitten habe», prahlte später einer der beteiligten SA-Männer.[3] An dem Fotografen hatte er sich nicht nur nicht gestört, sondern ihm befohlen, einen Abzug zu bringen.
Innerhalb weniger Wochen hatte sich Deutschland so grundlegend gewandelt, dass Recht und Ordnung, an deren Gültigkeit Michael Siegel im März 1933 noch fest glaubte, auf den Kopf gestellt waren. In den Rang von Hilfspolizisten erhobene Schlägertypen konnten nun vor aller Augen ungestraft ihre Brutalität zelebrieren – von vielen Passanten anscheinend nicht weiter beachtet, von manchen neugierig beäugt und verfolgt. Walter Gyssling beendete diesen Tag mit der traurigen Erkenntnis: «Ich weiss seit heute, was ein Pogrom ist.»[4]
Der Terror der ersten Wochen
«Die Zeichen stehen auf Sturm»[5], kommentierte dieVossische Zeitung bereits am Abend des 30. Januar 1933 die Einsetzung der Regierung Hitler. Doch was bedeutete dieser Regierungswechsel, der so umfassend gar nicht schien, blieben doch einige der alten Minister im Amt und war auch der neue Kanzler auf die Unterstützung Hindenburgs angewiesen? Was wollte, was konnte dieser «Führer» überhaupt? Der Hitler, der den einen nun als Verheißung erschien, der von den anderen verachtet oder nicht ernst genommen wurde, den manche fürchteten – und der vielen schlicht noch rätselhaft in seinen Absichten war.
DieJüdische Rundschau machte sich am Tag darauf einerseits keine Illusionen, da «eine uns feindliche Macht die Regierungsgewalt in Deutschland übernommen» habe, beruhigte sich aber zugleich mit der Tatsache, dass «Deutschlands Stellung innerhalb der gesamten Kulturnationen abhängig von seinem Verhalten in der Judenfrage» sei, außenpolitische Gründe und Einflüsse also mäßigend wirken würden.[6] Der am nächsten Abend über Rundfunk von Hitler verlesene Aufruf der Regierung schien die Bestätigung zu liefern: Von Juden, von irgendwelchen antisemitischen Maßnahmen gar, war nicht die Rede. «Sollte», fragte sich der Schriftsteller Erich Ebermayer in Dresden, «der Kanzler Hitler anders denken, als es der Stimmenfänger Hitler tat?»[7] Willy Cohn in Breslau vermochte nichts Beruhigendes zu entdecken, fürchtete einen Bürgerkrieg und am Ende einen Sieg des Kommunismus. Doch wie auch immer die Entwicklung weitergehen sollte, er sah «trübe Zeiten, besonders für uns Juden» aufziehen und fühlte sich wie in einer Mausefalle gefangen.[8]
Manche politischen Auguren in Berlin hingegen wähnten Hitler in der Falle. Der ehemalige Finanzminister Hugo Simon, ein linker Sozialdemokrat, sah ihn «an Händen und Füssen gefesselt den gerissenen Intriganten Papen und Hugenberg ausgeliefert»[9]. Ihm bleibe nur ein schmählicher schneller Abgang oder aber das Einschwenken auf den Kurs der Deutschnationalen, was ihn unweigerlich vor seinen Anhängern desavouieren würde. Der tschechische Diplomat Camill Hoffmann schrieb angesichts der Kabinettszusammensetzung spöttisch in sein Tagebuch: «Kein Drittes Reich, kaum ein 2 ½.»[10]
Die Überzahl der Rechtskonservativen und die starke Stellung des Reichspräsidenten verleiteten viele politische Beobachter in den ersten Tagen der