«Kanonen statt Butter»
Am nasskalten Nikolaustag des Jahres 1935 besuchte Hermann Göring die Hamburger Werft Blohm& Voss. Fast die gesamte Belegschaft versammelte sich in der großen Schiffbauhalle. Der Luftfahrtminister, ausstaffiert mit der Uniform eines Generals der Flieger, muss die Unzufriedenheit unter den Arbeitern gespürt haben. Zwar hatte der Rüstungsaufschwung viele Werftarbeiter, die während der Weltwirtschaftskrise arbeitslos geworden waren, wieder in Lohn und Brot gebracht. Nun aber befand sich das Dritte Reich in einer für jeden spürbaren Versorgungskrise. Schon im November hatte man ohne großes Aufheben begonnen, Butter zu rationieren, nachdem ihr Preis binnen zwei Jahren um fast ein Drittel gestiegen war. Neben Butter und Fleisch wurde selbst das Brot so knapp, dass die Deutschen die im Spätherbst 1933 eingeführten Eintopfsonntage in einem anderen Licht betrachteten. Was ursprünglich die Not der Arbeitslosen lindern sollte, galt vielen nun als Symbol der Versorgungskrise.
Entsprechend stellte die Prager Exilorganisation der SPD den «wachsenden Unmut der Bevölkerung über die Lebensmittelknappheit» an den Anfang ihres Monatsberichts vom November 1935. In den Großstädten komme der aus Krieg und Inflation bekannte Schleichhandel wieder in Gang, und auf «mehreren Wochenmärkten» musste die «Polizei den Verkauf der wenigen Fleischwaren» übernehmen, weil die Marktstände regelrecht gestürmt worden seien.[1] Vor diesem Hintergrund rief der wohlbeleibte Göring die Hamburger Werftarbeiter zum Verzicht auf: «Erz hat stets ein Reich stark gemacht, Butter und Schmalz haben höchstens ein Volk fett gemacht». Für Regimegegner war das ein gefundenes Fressen. John Heartfield verarbeitete Görings Satz im Prager Exil zu einer bitteren Satire. Der als Helmut Herzfeld geborene Graphiker galt als Erfinder der politischen Fotomontage. Nachdem ihn ein SA-Schlägertrupp in seiner Wohnung überfallen hatte, floh der Kommunist nach Prag, wo er weiter für dieArbeiter Illustrierte Zeitung arbeitete. Unterschrieben mit «Hurrah, die Butter ist alle!» karikierte er eine regimetreue Familie, deren gute Stube mit Hakenkreuztapete, Hitler-Porträt und Hindenburg-Sofakissen ausstaffiert ist. Während sich die Erwachsenen mit Wonne über die Teile eines alten Fahrrades und weitere Gegenstände aus der Alteisensammlung hermachen, kauert unter dem Tisch der Familienhund, der eine Schraube in Knochenform verspeist. Im Kinderwagen knabbert ein Baby an einem Henkersbeil.
Zwar gelangte die kommunistischeAIZ inzwischen kaum noch nach Deutschland und ihre Auflage war mit 12.000 Exemplaren auf einen Bruchteil ihrer früheren Verbreitung gefallen. Internationalen Beobachtern galt sie dennoch als wichtige Informationsquelle, und so wurden nun auch Blätter wie die britischeTimes auf die Lebensmittelknappheit in Deutschland aufmerksam. Sie berichtete nicht nur über Görings Anweisung an die Polizei, hart gegen Schwarzhändler vorzugehen, sondern mokierte sich auch über die «Schwierigkeiten für Hausfrauen» in Deutschland. In der Vorweihnachtszeit seien in Berlin kaum noch frische Eier aufzutreiben.[2]
Die Versorgungskrise traf die NS-Propaganda völlig unvorbereitet. Hilflos bezeichnete sie die Knappheit zunächst als Phänomen, das gewiss bald überwunden werde. So wies Goebbels die Presse an, etwas zur «Niederschlagung der Psychose» zu unternehmen. Angesichts des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung ließ sich diese Linie aber nicht durchhalten. Zum Jahreswechsel 1935/1936 nannte der Propagandaminister in seiner Silvesteransprache erstmals Gründe für die knappe Versorgung: Den Import von Lebensmitteln habe man «zu einem Teil einschränken» müssen, um der Einfuhr von Rohstoffen für die Aufrüstung Vorrang zu geben.[3] Zwei Wochen später wurde er auf dem Berliner Gauparteitag der NSDAP deutlicher: «Wir werden zur Not auch einmal ohne Butter fertig werden, niemals aber ohne Kanonen!» Rudolf Hess griff diese bündige Formel im Oktober 1936 auf, als er im oberfränkischen Hof die neue Adolf-Hitler-Halle einweihte: «Und wir sind bereit, auch künftig, wenn notwendig, mal etwas weniger Fett, etwas weniger Schweinefleisch, ein paar Eier weniger zu verzehren. […] Wir wissen, dass die Devisen, die wir dadurch sparen, der Aufrüstung zugutekommen. Auch heute gilt die Parole: Kanonen statt Butter.»[4]
Die Phrase begann sich nun zu verselbständigen und galt bald schon überall als Ausspruch Hermann Görings. Dieser gebrauchte sie jedoch gar nicht, als er wenige Tage nach der Hess-Rede an die Opferbereitschaft der Deutschen appellierte. Er behauptete im Berliner Sportpalast vor einem Massenpublikum, auf Butter inzwischen gänzlich zu verzichten und dadurch bereits tüchtig abgenommen zu haben. Die Zuhörer jubelten. In Hamburg hörte der irische Schriftsteller Samuel Beckett die «endlose Tirade» im Rad