: Anne von Canal
: Der Grund
: mareverlag
: 9783866483101
: 1
: CHF 8.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen? Ein reicher Stockholmer Vorort in den Sechzigerjahren: Laurits liebt das Spielen mit seinem besten Freund, das Schwimmen und Tauchen am Sommerhäuschen und vor allem die Klavierstunden bei Fräulein Andersson. Überall fühlt er sich wohler als in Gegenwart seiner überspannten Mutter und des dominanten Vaters, der für seinen Sohn eine Zukunft als Mediziner vorsieht. Doch als Laurits 18 wird, ist eine Karriere als Konzertpianist zum Greifen nah, und er spielt um sein Leben. Dann kommt alles anders als gedacht; Laurits findet seine Bestimmung als Arzt - und mit seiner großen Liebe Silja und der gemeinsamen Tochter Liis das Glück. Bis er Jahre später bei einem Familienfest erfahren muss, dass sein Leben auf Sand gebaut ist. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung... 'Der Grund' erzählt die Geschichte eines Mannes, der immer wieder gezwungen ist, sich neu zu erfinden - und entwickelt dabei einen atmosphärischen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Mit allen Sinnen erlebt man zusammen mit Laurits Licht und Schatten im großbürgerlichen Elternhaus zwischen Pflichterfüllung und Freiheitsdrang und begleitet ihn auf seiner Suche nach Aussöhnung, die ihn um die ganze Welt führt. 'Ich habe mich in dieses Buch verliebt: Je näher ich ihm gekommen bin, desto ehrlicher hat es zurückgeschaut. Wunderbar!' Heikko Deutschmann

Anne von Canal, geboren 1973, war nach dem Studium der Skandinavistik und Germanistik zehn Jahre lang im Verlagswesen tätig, bevor sie sich selbst dem Schreiben widmete. Heute lebt sie auf einem Weingut an der Mosel und zeitweise in Hamburg. 'Der Grund' ist ihr literarisches Debüt.

Freitag, 15. 10. 1976


Die Tür ging auf, ein kalter Luftzug.

»Victor Alexander Laurentius Simonsen, bitte«, sagte eine Frau. Sie hatte ein Vogelgesicht, spitz und überlegen wie eine Elster, mit wachen Augen.

Laurits stand auf und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Er fühlte sich, als wäre er gerade aus dem Koma erwacht. Ihm war schwindelig, sein Gehirn wie in Watte verpackt und seine Ohren – etwas war mit seinen Ohren. Die Gespräche auf dem Flur, die Schritte auf dem Steinboden, die Toilettenspülung, deren ununterbrochenes Rauschen ihn in der vergangenen Stunde eigentümlich beruhigt hatte – alles klang dumpf, kilometerweit weg. Einen Moment lang fürchtete er, ohnmächtig zu werden, doch der unnachgiebige Blick der Frau ließ das nicht zu.

Sie winkte ihn ungeduldig zu sich heran, und während er versuchte, wieder in der Wirklichkeit zu ankern, verzog sie das Gesicht zu einem Lächeln, das trotz aller bemühten Freundlichkeit aussah, als wollte sie ihm im nächsten Moment den Schnabel in die Halsschlagader stoßen. Ihr Mund bewegte sich.

»Kommen Sie, Sie sind an der Reihe.«

Langsam erkannte er den Flur wieder, die Tür, die er seit einer Ewigkeit angestarrt hatte, und ihm fiel ein, warum er hierhergekommen war. Es war wegen Fräulein Anderssons Worten: »Du kennst deine Grenzen, Laurits. Überschreite sie.«

Er würde Pianist werden.

In der Stunde, die vergangen war, seit er bei dem schwerhörigen Mann an der Rezeption das Anmeldeformular ausgefüllt, seine Lackschuhe angezogen und auf dem Flur Platz genommen hatte, war sein ursprünglich solides Selbstvertrauen wie eine Kerze in einem zugigen Fenster flackernd heruntergebrannt.

Drei Mal war er seither auf der Toilette gewesen.

Zuletzt hatte er sich Wasser ins Gesicht gespritzt, um sich ein wenig zu beruhigen. Er hatte sich auf dem Waschbecken abgestützt