Eins
13. Juni, 16:55 Uhr, Piazza San Marco, Venedig, Italien
Henry: Ich hasste es zu warten. Es war solch eine unnütze Verschwendung. Zeit ist kostbar, in jeder Hinsicht. Unser ganzes unbedeutendes Leben lang laufen wir ihr hinterher. Warum war ausgerechnet ich mit dieser Operation beauftragt worden? Meyer wusste genau, dass Observationen mich ankotzten. „Stone, Sie sind genau der richtige Mann für diesen Job“, hatte er mir mit einem gönnerhaften Grinsen im Gesicht eröffnet. Ich unterdrückte den Impuls, ihm einen präzise ausgeführten Kinnhaken mit meiner starken Linken zu verpassen, sodass ihm jedes seiner gebleichten Zahnimplantate einzeln aus dem Mund gefallen wäre. Eine der unzähligen Regeln bei uns lautete: „Lass dich nie und unter keinen Umständen von deinen Emotionen leiten.“ Das hatten sie uns von Anfang an eingetrichtert. Mit der Zeit wurden wir klug genug zu wissen, dass jeder, der gegen diese Regeln verstieß, dafür bezahlen würde. Immer. Das war die erste von vielen Lektionen, die ich im Laufe der Jahre gelernt hatte. Als ich noch jung war. Vor einer scheinbaren Ewigkeit. Zu einer Zeit, als ich noch glaubte, eine Wahl zu haben. Und ein Leben. Das alles lag lange zurück. Trotzdem spürte ich bei der Erinnerung an damals Wut in mir aufsteigen, die meine Hände zittern ließ. Verdammt, wir waren Kinder! „Lass los. Es hat keinen Sinn, mit der Vergangenheit zu hadern“, sagte ich zu mir selbst. Wohl wissend, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Nichts ist selbstzerstörerischer als zurückzublicken und zu bereuen. Wir können nur das ändern, was vor uns liegt.
Darum bemüht, die Geister der Vergangenheit abzuschütteln, konzentrierte ich mich wieder auf die Zielperson. Wenn es nur nicht so verdammt heiß gewesen wäre! Aber ich hatte nichts anderes erwartet. Es war Juni und auf dem Markusplatz stand die Luft. Ich griff nach meinem acqua minerale. Die kühle Flüssigkeit rann meine trockene Kehle hinab, während ich durch die dunkel getönten Gläser meiner Brioni den Mann beobachtete, wegen dem ich nach Venedig gekommen war. Signore Adamo Di Lauro.
Wenn man ihn so dasitzen sah, mit verwaschenen Jeans und weißem Poloshirt, in diesem kleinen Café inmitten all der Touristen, war es schwer vorstellbar, dass er zu den reichsten Männern Europas zählte. Er hatte sein Geld im Immobiliengeschäft gemacht. So lautete die offizielle Version. Seiner Akte zufolge kooperierte Di Lauro nebenbei mit der Mafia, indem er sie mit Waffenlieferungen unterstützte. Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass Organisationen wie unsere einflussreiche Geschäftsleute wie Di Lauro im Auge hatten. Aber mir wollte einfach nicht in den Kopf, warum ausgerechnet ich diesen Typen observieren sollte. In der Regel übernahm der für das jeweilige Land zuständige Geheimdienst solche Bagatellaufgaben. Natürlich hatte ich dem Chef gegenüber mein Unverständnis über den Sinn di