TASCHE PACKEN
Der Schnürsenkeltick.
Über Rituale, Alpträume und Ausrüstung
Ich sitze in einer Umkleidekabine und bereite mich auf das Spiel vor. Durch ein Fenster kann ich nach draußen in Richtung Spielfeld blicken. Es sind eine Menge Zuschauer da. Die beiden Mannschaften stehen bereits auf dem Platz. Es ist angerichtet. Nur ich bin noch nicht fertig, nicht annähernd. Ich habe noch kein Trikot an, noch keine Stutzen und keine Schuhe. Vor mir auf dem Tisch liegt mein Mäppchen mit den übrigen Utensilien: gelbe und rote Karte, die beiden Pfeifen, Stutzenhalter, Stift, Spielnotizkarte.
Im Normalfall läuft alles in der so oft erprobten Reihenfolge ab, instinktiv. Und gerade jetzt müsste ich mich beeilen, ich sehe noch einmal durch das Fenster nach draußen, langsam kommt Unruhe auf; es soll losgehen, man wartet auf mich. Aber es geht nicht: Was auch immer ich tue, geht nur in Zeitlupe vor sich. In Zeitlupe streife ich die Stutzen über, wie immer erst den linken, dann den rechten; in Zeitlupe greife ich nach dem Trikot, das ich bereits auf dem Tisch vor mir bereitgelegt habe.
Da draußen, vor dem Fenster, bewegt sich alles in normaler Geschwindigkeit; die Zuschauer werden wütend, die Spieler gestikulieren zunehmend aggressiv in meine Richtung, sie sind nervös, es soll losgehen, ich streife ganz langsam das Trikot über den Kopf, bleibe dabei noch hängen, sehe kurz nichts, bin desorientiert und zunehmend panisch; jetzt ist wieder Licht da, und ich muss wieder durch das Fenster schauen, da draußen kicken sie jetzt ohne mich den Ball hin und her, und das geht doch nicht, denke ich, die können doch nicht ohne mich, und greife zu meinen Schuhen, in Zeitlupentempo, versteht sich, habe die Schnürsenkel zwischen den zittrigen Fingern; versuche mich zu erinnern, wie man eine Schleife bindet … und schrecke aus dem Schlaf hoch.
Dieser Traum, wieder einmal. Er ist eine Konstante in meinem Leben; seit vielen Jahren träume ich ihn, beinahe wöchentlich, in immer den gleichen Bildern, in immer der gleichen quälenden Langsamkeit.
Ein klassischer Schiedsrichteralptraum. Mein bester und ältester Schiedsrichterfreund, mit dem gemeinsam ich die Prüfung abgelegt habe, hat ebenfalls einen wiederkehrenden Traum: Er steht auf dem Platz, ein Spieler begeht ein sehr schlimmes und schweres Foul; der Schiedsrichter nimmt die Pfeife in den Mund, um aus voller Kraft hineinzublasen – und kein Ton kommt heraus. Beides sind Träume, die vom Versagen handeln, vom eigenen Versagen und vom Versagen der, nennen wir es so, Technik.
Ja, Schiedsrichter wirken möglicherweise auf Menschen, die sich auf andere Weise mit Fußball beschäftigen, also Fans, Spieler oder Trainer, sehr merkwürdig. Sie machen etwas, was nicht vernünftig scheint: Sie übernehmen freiwillig und noch nicht einmal für eine sonderlich gute Bezahlung einen Job, der ihnen nur Ärger einbringt. Schiedsrichter sind für Nichtschiedsrichter per se erst einmal schrullige Menschen, Exzentriker, Wichtigtuer sogar. In jedem Fall übernimmt ein Schiedsrichter ein Amt, das mit Verantwortung verbunden ist und damit, die Kontrolle zu behalten. Wer die Kontrolle über ein Fußballspiel behalten will, muss zuerst einmal die Kontrolle über sich selbst behalten, zumindest für 90 Minuten.
Ein Schiedsrichter muss also, wenn er erfolgreich sein will, ein disziplinierter Mensch sein. Spieler dürfen undiszipliniert sein. Man verzeiht es ihnen im schlimmsten Fall, im besten Fall entstehen dabei genialische Momente. Wenn ein Schiedsrichter aus der Rolle fällt, ist das nicht genialisch, sondern peinlich. Ein Fußballschiedsrichter ist abe