Aschenputtel (Gebrüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen)
Nach dem Tod der Mutter ergeht es Aschenputtel schlecht: Der Vater heiratet erneut, doch Stiefmutter sowie die beiden Stieftöchter schikanieren Aschenputtel, wo sie nur können. Trost findet sie nur am Grab der Mutter. Als der Prinz heiraten will, lässt er ein dreitägiges Fest ausrichten, zu dem alle Jungfrauen des Landes eingeladen werden. Aschenputtel darf nicht mit. Am Grab der Mutter findet sie ein prächtiges Kleid und nimmt unerkannt am Fest teil, wo sich der Prinz in sie verliebt. Aschenputtel kann zweimal fliehen, beim dritten Mal verliert sie ihren Schuh. Der Prinz lässt nach ihr fahnden. Aschenputtels Stiefschwestern versuchen vergebens, den zierlichen Schuh über ihre Füße zu ziehen, schneiden sich jeweils Zehe und Ferse ab, aber der Betrug fliegt auf. Aschenputtel hingegen passt der Schuh und so wird sie des Prinzen Braut.
ASCHENPUTTEL
Andreas Izquierdo
Sie stahl wie eine Elster, und ihre Fingernägel waren niemals sauber. Wenn es Nacht wurde in Schottland, wenn Gaslaternen die steilen, engen Gässchen Edinburghs in gelbes Licht tauchten und die Stadt zu Füßen der Burg schlafen ging, dann flog sie davon, über Schindel und schwarzen Kater, und nur wer nicht schlief und sich nach ihr sehnte, konnte sie dann und wann im fahlen Mondlicht tanzen sehen. Sie war die schwarze Fee, die nach kaltem Rauch und heißem Schornstein suchte, die darin abtauchte und sich alles nahm, was durch Fenstergitter und verschlossene Tür gesichert schien. Sie war Königin in der Nacht und Bettlerin am Tag, hat mich beraubt, gerettet und mir die Augen geöffnet für eine Welt, die ich vorher nicht kannte.
Das alles ist jetzt schon Jahre her, seltsam, dass ich gerade jetzt daran denken muss, ausgerechnet hier, vor den eisigen Küsten der Arktis, an Bord unseres Robbenfängers Hope, soweit von Zuhause entfernt. Ich blicke durch das kleine Bullauge hinaus auf eine kalte, schwarze See, höre das Pumpen der Dampfkessel und frage mich, was ich hier, am Ende der Welt, eigentlich suche? Abenteuer? Ich sehne mich nach Abenteuern, doch ohne sie bleibt alles grau.
In einer Kommode neben meine Bett finde ich die Heilige Schrift und darunter einige Dutzend Bögen Papier, und ich denke, vielleicht könnte das die Lösung sein: schreiben. Ihre Geschichte. Meine Geschichte. Und all die Geschichten, die sich noch in mir wie kleine schwarze Feen verstecken. Auf dass ich sie freilasse und sie über Schindel und Kater im Mondlicht tanzen lasse.
Edinburgh, 1874.
Es waren ihre Hände. Zu zart für einen Schornsteinfegerjungen, für den sie sich ausgab. Sie selbst war unter Ruß und Asche nicht zu erkennen, wie sie dastand mit ihrem Vater, der gleichzeitig ihr Lehrmeister war, um den Lohn ihrer Arbeit entgegen zu nehmen: Silbern klimpernd fielen Münzen auf schwarze Haut, während sich ihre Finger zu einer Faust schlossen. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke, und es war, als tippte sie gegen mein Herz, und alles schwang und summte und wollte nicht mehr aufhören nachzutönen. Die Hände. Die Augen. Ich musste wissen, wer sie war.
Sie verließ unser Haus, während ich ihr in aller Heimlichkeit aus der Altstadt hinaus folgte, dorthin, wo die Armen wohnten, und ich sah, wie sie sich in einem kleinen Hof mit kalten Wasser die Asche aus dem Gesicht wusch und darunter das schönste Mädchen der Stadt zum Vorschein kam, vielleicht vierzehn Jahre alt. Eine Frau kam aus dem Haus, eleganter, als man es für eine Gegend wie diese vermutet hätte, und rief hart: „Aschenputtel!“
Sie blickte auf und folgte ihr nach drinnen. Heimlich schlich ich an ein fast blindes Fenster und sah sie in der Küche neben dem Herd in der Asche sitzen. Zwei Schwestern hatten Linsen und Erbsen hineingekippt und waren kichernd davongelaufen. Ich dachte an sie. Steckte Prügel ein, weil ich im Unterricht meinen Gedanken nachhing. Konnte nicht schlafen, weil ich in der Dunkelheit ihr Gesicht sah, vom Ruß befreit. Sie winkte mir zu, und fast war ich soweit, mich aus der Kammer zu schleichen, vorbei an meinen schlafenden Geschwistern, auf leisen Sohlen über das neblige Kopfsteinpflaster, wie ein Dieb in der Nacht. Hoffen, dass sie wach war. Doch was dann?
So blieb ich, wo ich war. Bis zu jenem Tag, an dem zwei Herren bereits am frühen Morgen in unserer Küche standen und sich mit meinem Vater unterhielten, der mich mit ernster Miene zu sich winkte.
„Das ist mein Sohn“, sagte er knapp. „Er hat heute Geburtstag! Fünfzehn.“
Der größere der beiden, ein Schlacks mit einer Habichtsnase, dunklem Anzug und Zylinder gab mir die Hand und lächelte: „Was für ein betrüblicher Anlass, sich kennen zu lernen. Wie heißt du, mein Junge?“
„Arthur!“, antwortete ich eingeschüchtert, denn nie zuvor hatte ich mit der Polizei zu tun gehabt. „Arthur Ignatius Conan Doyle.“
Er nickte meinem Vater freundlich zu: „Was für ein wohl erzogener Bursche, ihr Sohn doch ist, Mister Doyle!“ Dann sah er mich wieder an, musterte mich, hielt weiterhin meine Hand. Dieser Blick! Seinen Augen entging nichts, sie suchten unentwegt.
„Das ist Inspector Holmes“, sagte mein Vater. „Und der Herr hinter ihm ist Sergeant Watson.“
„Freut mich, Sir.“ Der Sergeant erwiderte meinen Gruß, indem er mit dem Finger an seinen Helm tippte, der für rangniedere Polizisten seit elf Jahren Pflicht war. Er war kleiner und athletischer als Holmes, jedoch mit ebenso aufmerksamen Augen. Der Inspector ließ mich los und nahm von meinem Vater ein Blatt Papier entgegen.
„Ich habe Ihnen eine Aufstellung der gestohlenen Gegenstände gemacht, Inspector.“
Holmes warf einen Blick drauf und sah mich dann freundlich an: „Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass auch dein Geburtstagsgeschenk darunter war, Arthur.“ Ich schluckte und nickte tapfer.
„Aber ich verspreche, dass ich den Dieb finden werde. Das soll mein Geburtstagsgeschenk an dich sein.“
„Danke, Sir. Sehr freundlich. Haben Sie denn schon eine Spur?“
Holmes schüttelte den Kopf: „Nein, mein Junge. Es gibt eine Serie von Einbrüchen, aber es gibt keine Spuren. Geschlossene Räume, die nicht geöffnet wurden. Und doch war jemand darin. Sehr mysteriös.“
„Verstehe, Sir.“
Holmes antworte mit freundlicher Ironie: „Hören Sie, Watson? Der junge Mann versteht!“ Watson lächelte still über die Bemerkung. Dann nickten beide meinem Vater zum Gruß zu und verließen das Haus.
Menschen versteckten ihre Geheimnisse, doch wer genau hinsah, konnte sie sehen, ganz gleich unter wie viel Ruß sie verborgen sein mochten. Und auch verschlossene Räumen gaben nur dann