Es gibt berühmte Bücher, die dennoch weitgehend unbekannt sind. Kaum eine Bibliographie, kaum eine wissenschaftliche Arbeit zur Kriminalliteratur, die in den letzten fünfzig, sechzig Jahren in Deutschland erschienen ist, verweist nicht auf Fritz Wölckens Habilitationsschrift von 1953: »Der literarische Mord. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Kriminalliteratur«. Das macht sich gut in Fußnoten und Bibliographien, aber wenn man sich ein bisschen umhört, wer das Buch wirklich gelesen hat, und wenn man – akademisch einigermaßen routiniert kann man schon sehen, ob auf ein Buch rituell hingewiesen wird oder ob es ein ernsthafter Baustein einer Argumentation ist –, bedenkt, wie schwierig es war, an ein vollständiges Exemplar zu kommen, dann schleichen sich leise Zweifel ein, ob man Wölckens Werk nicht einfach der »frühen Forschung« zur Kriminalliteratur zuschlägt, also ins wissenschaftsgeschichtliche Archiv, ins Museum verbannt. Richard Alewyns berühmter Aufsatz »Anatomie des Detektivromans«, der 1968 in zwei Teilen in der ZEIT erschien, gilt allgemein als die entscheidende Nobilitierung der Kriminalliteratur – sie sei damit ein ernstzunehmender Gegenstandsbereich für die Literaturwissenschaft geworden, die damit dem gehobenen Essayismus à la Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und, nach dem Krieg, Helmut Heißenbüttel eigene Zugänge entgegenzusetzen habe. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Alewyns Aufsatz war selbst eher Essay, denn argumentierende Literaturwissenschaft, hatte aber durch den Druckort ZEIT einen erheblichen Prestigebonus,
Der einflussreiche Sampler »Der Kriminalroman«, herausgegeben von Jochen Vogt (als zweibändige Ausgabe 1971, neu bearbeitet in einem Band 1998), die für die wissenschaftliche und seriöse publizistische Auseinandersetzung mit der Kriminalliteratur im deutschsprachigen Raum sicher wirkmächtigste Publikation, hat keinen Auszug aus Wölcken aufgenommen. Alewyns gattungstheoretisch naive Simplifikation der beiden Typen von Kriminalroman, also Detektivroman und »Kriminalroman im engeren Sinn«, scheint die größere Anziehungskraft gehabt zu haben und auch noch einen einfacheren Umgang mit dem immer noch (im Grunde bis heute) unter letztendlichem Trivialverdacht stehenden Genre zu versprechen.
Deswegen möchte ich die Relevanz und auch die immer noch in Teilen bestehende Aktualität Wölckens unterstreichen. Der erste, sofort ins Auge fallende Grund, warum »Der literarische Mord« präsent gehalten werden sollte, ist so selbstverständlich, dass man ihn fast übersieht: Wölcken diskutiert Kriminalromane als Literatur, mit allen Konsequenzen. Nicht lesersoziologisch, nicht als »volkskundliches« Thema – die Erforschung populärer und trivialer Lesestoffe war lange bei den »Volkskundlern« oder Buch-Wissenschaftlern angesiedelt, weniger bei den argumentierenden Literaturwissenschaften -, nicht bei der »Trivialliteraturforschung.«
Vor allem Letzteres ist deswegen bemerkenswert, weil in den 1950er Jahren das Bemühen, wenigstens die deutsche Kultur vor angelsächsischem und amerikanischen »Dreck« rein zu halten (ein Kapitelchen in der Wir-sind-doch-nur-ein-verführtes-Kulturvolk) gerade in der Kriminalliteratur den idealen Angriffspunkt gefunden hatte (später gab’s dann die berühmte »Aktion saubere Leinwand« und andere Prohibitionismen). Der berühmte »Grenzwächter«-Aufsatz von Wilhelm Müller: »Zur Topographie derUnteren Grenze«, der gerade in der einflussreichen Bibliotheksfachzeitschrift »Bücherei und Bildung« (3/1951, S. 665 – 669) erschienen war, rief dazu auf, »von der Waffe Gebrauch zu machen«, wenn es darum gehe, »unmoralische Kriminalromane« zu verhindern. Unter diesem kulturpolitischen Klima litt natürlich die Rezeption angelsächsischer Kriminalliteratur, um die sich gleich nach dem Krieg der Verleger, Journalist und Politiker Karl Anders mit seinem Krähen- bzw. Nest-Verlag kümmerte. Anders brachte zum ersten Mal Autoren wie Dashiell Hammett, Eric Ambler, Raymond Chandler etc. nach Deutschland, weil er der Meinung war, Kriminalliteratur dieses Zuschnitts, Demokratie und Politik gehörten zusammen und trügen somit zu der dringend notwendigen Demokratisierung der (west-)deutschen Gesellschaft bei. Karl Anders selbst verfasste selbst auch eine – ironischerweise, s.o., bei Vogt 1971 abgedruckte – Erwiderung auf Müller, in dessen Leibundmagenblatt, dem oben zitierten BuB, 4/1952, S. 509 – S. 51, unter dem Titel: »Der Kriminalroman. Versuch einer Einordnung.«, der auch bei Culturbooks wieder zugänglich gemacht werden wird. (Zu dem ganzen Sachverhalt empfehlen wir Patrick Rössler: »anders denken. Krähen-Krimis und Zeitprobleme: der Nest-Verlag von Karl Anders«, mit u.a. substantiellen Beiträgen zum Thema von Ann Anders und Alf