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Die Menschen um Jesus
«Viele … kamen immer wieder zu Jesus, um ihn zu hören.»
Die meisten Auslegungen dieses Gleichnisses haben sich auf die Flucht und die Rückkehr des jüngeren Bruders konzentriert – des «verlorenen Sohnes». Dies geht jedoch an der eigentlichen Botschaft der Geschichte vorbei, denn es gibt ja zwei Brüder, von denen jeder eine andere Form der Entfremdung von Gott und eine andere Art und Weise darstellt, nach Aufnahme im Himmelreich zu streben.
Es ist entscheidend, das historische Umfeld zu beachten, in das der Autor diese Predigt Jesu stellt. In den ersten beiden Versen des Kapitels nennt Lukas zwei Gruppen von Leuten, die gekommen waren, um Jesus zuzuhören. Zunächst waren da die «Zolleinnehmer und andere verrufene Leute». Diese Männer und Frauen entsprechen dem jüngeren Bruder. Sie beachteten weder die Moralgesetze der Bibel noch die Vorschriften für die kultische Reinheit, an die religiöse Juden sich hielten. Sie «leisteten sich, was immer sie wollten». Wie der jüngere Bruder verließen sie ihre Heimat, indem sie die moralischen Traditionen ihrer Familien und der angesehenen Gesellschaft hinter sich ließen.
Die zweite Zuhörergruppe waren die «Pharisäer und Schriftgelehrten», die durch den älteren Bruder repräsentiert wurden. Sie hielten an der traditionellen Moral fest, in der sie erzogen worden waren. Sie studierten die Heilige Schrift und gehorchten ihr. Sie besuchten treu die Gottesdienste und beteten ohne Unterlass.
Mit sparsamsten Mitteln zeigt Lukas, wie unterschiedlich diese beiden Gruppen auf Jesus reagierten. Die progressive Zeitform des griechischen Verbs, das mit «kamen immer wieder» übersetzt wird, macht deutlich, dass die Anziehungskraft Jesu auf die «jüngeren Brüder» ein beständiges Merkmal seines öffentlichen Wirkens war. Sie scharten sich permanent um ihn.
Dieses Phänomen war den rechtschaffenen und religiösen Leuten ein Rätsel und ein Dorn im Auge. Deren Empörung darüber fasst Lukas so zusammen: «Mit welchem Gesindel gibt der sich da ab! Er setzt sich sogar mit ihnen an einen Tisch!» Sich mit jemandem an einen Tisch zu setzen und mit ihm zu essen, war im antiken Orient ein Zeichen, dass man ihn akzeptierte. «Wie kann Jesus es wagen, sich mit solchen Sündern abzugeben?», fragten sie. «Diese Leute kommennie inunsere Gottesdienste! Wieso kommen sie dann in Scharen gelaufen, wenn Jesus predigt? Was der ihnen verkündigt, kann ja wohl nicht die Wahrheit sein, so wie wir es tun. Er sagt ihnen bestimmt nur das, was sie gerne hören wollen!»
An wen richtet sich also Jesu Lehre in erster Linie in diesem Gleichnis? Sie richtet sich an die zweite Gruppe, an die Schriftgelehrten und Pharisäer. Als Antwort auf ihre Herzens-Einstellung beginnt Jesus mit der Erzählung des Gleichnisses. Das Gleichnis von den zwei Söhnen wirft einen gründlichen Blick in die Seele des älteren Bruders und gipfelt in einem eindringlichen Appell an ihn, seine Haltung zu ändern.
Wann immer dieser Text im Lauf der Jahrhunderte in Kirchen oder im Religionsunterricht behandelt wurde, lag das Augenmerk fast ausschließlich darauf, wie großzügig der Vater seinen bußfertigen jüngeren Sohn wieder bei sich aufnimmt. Als ich das Gleichnis zum