Die Vorstellung von der Bibliothek als einem Speicher ist nicht nur mir, dem Hamburger, vertraut, Säcke und Kisten werden ja auch in Regalen verwahrt. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Tabak, Stoffe und Teppiche ruhen sich im Speicher ein wenig aus von der rastlosen Warenzirkulation. Bücher hingegen bleiben in der Bibliothek und verlieren hier ihren Warencharakter. Sie sollen der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich sein. Lediglich der Bibliotheksgroschen erinnert von fern noch an die Ware Buch. Auch der entfällt in einer privaten Bibliothek, die ein Gedächtnis- und Wissensspeicher individueller Interessen und Neigungen ist. Eine der ersten privaten Bibliotheken gehörte einem Mann, der intensiv und vielfältig über Individualität nachgedacht und geschrieben hat, Michel de Montaigne.
Im dritten Buch derEssais hat er seine Bibliothek recht genau beschrieben:Meine Bücherei liegt im dritten Stockwerk eines Turms. Der erste Stock ist meine Kapelle; eine Treppe hoch ein Schlafgemach mit seinem Nebenraum, wo ich mich niederlege, um allein zu sein. Darüber lag eine große dazugehörige Kleiderkammer. Sie war in vorigen Zeiten der ungenützteste Raum meines Hauses. Hier bringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden des Tages zu. (…) Das Zimmer ist rund, außer einem geraden Stück Wand, gerade lang genug für meinen Tisch und meinen Stuhl, und bietet mir, wenn ich mich umdrehe, mit einem Blick alle meine Bücher dar, die rundum in fünf Reihen übereinander aufgestellt sind. Es hat drei Fenster mit schöner und freier Aussicht und misst sechzehn Schritt im Durchmesser. Im Winter halte ich mich nicht so dauernd darin auf: Denn mein Haus liegt, wie sein Name sagt, auf einem Hügel, und es ist darin kein windigerer Raum als dieses Turmzimmer; doch gefällt es mir, dass es ein wenig beschwerlich und abgelegen ist, sowohl der Zuträglichkeit des Erkletterns wegen wie, um mir die Menge der Besucher vom Leibe zu halten. Hier ist meine Stätte.
Als ich diese Bibliothek betrat, in der heute seine Bücher fehlen, war der erste Eindruck: Abgrenzung, Geborgenheit, ja der Raum hatte etwas Höhlenhaftes, was sich erst mit dem Blick aus einem der drei nicht besonders großen Fenster in die Ferne änderte. Der Raum schien das zu verbinden, was die beiden idealtypischen Formen einer entschiedenen Abgrenzung zur Welt sind: Turm und Höhle. Wer welche Form bevorzugt, hängt wohl von fernen kindlichen Erfahrungen und Wünschen ab. Ein guter Freund, Mathematiker, sitzt in seinem wunderbaren Haus unten im Keller in einem kleinen Raum und geht seiner Arbeit nach. Er könnte durchaus in der Dachetage mit Blick über Gärten und andere Wohnhäuser seinen Schreibtisch aufbauen. Unbeirrt verbringt er seine Tage in diesem dunklen Raum mit der Aussicht auf die Grassoden vor dem Kellerfenster. Mein Kinderwunsch waren Baumhütten, waren Türme, und ein schöner Zufall brachte es mit sich, dass ich meinen Arbeitsraum in einem Turmzimmer gefunden habe, fast rechteckig, das sich nach zwei Seiten mit jeweils zwei Fenstern öffnet und nach Westen den Blick über den Englischen Garten erlaubt. Spärlich möbliert, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Lesesessel und im Rücken eine ausgewählte Bibliothek: Nachschlagewerke, darunter das Wörterbuch der Brüder Grimm, Bücher, die mit der augenblicklichen Arbeit zusammenhängen, und einige Werke, recht unterschiedliche, in die ich immer wieder hineinblättere, Goethe, Kleist, Hölderlin, Ovid, Homer, Gottfried Benn, Plato und die Bibel. Ein Raum, der beides erlaubt, die Abgeschlossenheit und die Konzentration, und dennoch die Möglichkeit bietet, in die Welt hinauszuschauen. Hin und wieder lasse ich mich stören, blicke hinunter, weil Rufe und Stimmen laut werden. Es ist eine ruhige, wenig befahrene Straße. Ich stehe am Fenster und denke, seit ich den Turm von Montaigne gesehen habe, dass er vermutlich ebenfalls aus einem seiner drei Turmfenster hinausblickte, um nach den Schweinen, Pfe