1 Trauern – mehr als Abschiednehmen!
»Meine Liebe zu dir will bleiben«
Loslassen ist nicht nötig – Der Abschied von einem Dogma der Trauerpsychologie
Ich stehe am offenen Grab. Die Sargträger ziehen die Hölzer unter dem Sarg weg, die Seile spannen sich. Dann lassen sie den Sarg langsam ins Grab. Ich weiß, dass in diesem Holzkasten mein Sohn liegt. Nun wird es endgültig sein: Mein Sohn ist nicht mehr da. Er ist nicht mehr bei mir. Mein Entsetzen ist so groß, dass ich nicht begreife, was hier eigentlich passiert.
Das ist der letzte Abschied. Ich muss scheiden von meinem Sohn, und er von mir. Ich muss unter-scheiden, zwischen mir, dem Lebenden, und meinem Sohn, dem Toten. Ich muss loslassen. Meinen Sohn aus den Händen geben. So sagt es der Pfarrer am Grab, so sagt es die derzeitige Trauerliteratur.
Doch in meiner eigenen Trauer spüre ich mehr denn je: Ich will nicht Abschied nehmen, loslassen schon gar nicht. Ich weiß natürlich, dass mein Sohn nicht mehr lebt und deshalb leiblich nicht mehr greifbar ist. Und dennoch und gerade deshalb möchte ich ihn nicht verlieren, sondern weiterhin eine Beziehung mit ihm leben – natürlich eine Beziehung, die anders aussieht als die zu einem lebenden Menschen.
Deshalb geht es mir in diesem Buch um ein neues Modell des Trauerns. Ein Modell, das dem Hinterbliebenen hilft,mit dem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben. Nicht das Loslassen steht im Zentrum, sondern die Liebe zum Verstorbenen, die weiter reicht. Auch wenn der Tod das Leben des Verstorbenen beendet, die Liebe des Hinterbliebenen beendet er nicht.
Der Tod verändert nur die Beziehung zum Verstorbenen. In der Liebe des Hinterbliebenen lebt diese Beziehung weiter!
Es geht eben nicht nur um Loslassen und Abschiednehmen, auch wenn das nach der gültigen Trauerpsychologie das Ziel jeder Trauer ist und sein soll. Die Trauer, so der wissenschaftliche Konsens, ist die Emotion des Abschieds. Die Trauer hilft dem Hinterbliebenen, den Verstorbenen loszulassen. Diesen die ganze Trauerpsychologie auch heute noch bestimmenden Grundgedanken formulierte Sigmund Freud schon 1913 in seiner Schrift »Totem und Tabu« wie folgt: »Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten ablösen«(Freud, Gesammelte Werke, Bd. IX, S. 82). In seiner für die Psychologie der Trauer sehr einflussreichen Schrift »Trauer und Melancholie«(Freud, Gesammelte Werke, Bd. X) vertieft Freud diesen Ansatz weiter. Die Ablösung erfordert vom Trauernden sehr viel Energie. Deshalb wird dieser Prozess von Freud als »Trauerarbeit« beschrieben. Die bisherige Trauerpsychologie empfiehlt daher nachdrücklich:
- Lerne den Tod des Verstorbenen als Realität zu sehen!
- Akzeptiere, dass der Verstorbene nicht mehr da ist!
- Lasse den Verstorbenen los!
- Nimm Abschied von ihm und dem bisherigen gemeinsamen Leben!
- Lerne ohne den Verstorbenen zu leben!
- Baue ein neues Leben ohne den Verstorbenen auf!
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