: Peter Schneider
: An der Schönheit kann's nicht liegen Berlin-Porträt einer unfertigen Stadt
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462308976
: 1
: CHF 11.00
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Berlin ist das Aschenputtel unter Europas Hauptstädten - und doch will jeder dorthin Dieses Buch ist das Ergebnis einer Recherche, die Peter Schneider über seine Wahlheimat, die »ewig unfertige Stadt« Berlin angestellt hat. Kein Stadtführer, kein Loblied, das sich für die Berlin-Werbung eignet, sondern ein persönliches und poetisches Porträt, das den alten und neuen Absurditäten der Stadt nachspürt. Es ist nicht die schönste und auch nicht die älteste Hauptstadt Europas. Sie kann weder auf eine Altstadt noch auf Renaissance-Bauten noch auf ein weltberühmtes Bankenviertel verweisen. Wer nach aufregender moderner Architektur sucht, fährt lieber nach London, Paris und Barcelona. »Aber wenn ich in New York, in Tel Aviv oder in Rom auf die Frage eines Einheimischen, woher ich komme, den Namen Berlin ausspreche, tritt unversehens Neugier, ja, Begeisterung in die Augen des Fragenden. Ohne jedes Zögern wird er mir von seinem letzten oder gerade geplanten Berlin-Besuch erzählen, kann mir aber nicht so recht erklären, warum er sich ausgerechnet in diese Stadt verliebt hat.« Vergeblich sucht Peter Schneider mit Ironie und Empathie eineBalance zwischen Liebeserklärung und Wutausbruch; ziemlich verlässlich bleibt nur der scharfe Blick und der Witz seiner Darstellung. Es ist nicht das erste Mal, dass der Autor seiner Stadt den Puls nimmt. Legendär ist sein »Mauerspringer« aus dem Jahr 1982, in dem er das Wort von der »Mauer im Kopf« prägte und voraussagte, sie würde länger stehen bleiben als »das Ding aus Beton«.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

Teil 1


Aschenputtel Berlin


Es ist gar nicht so leicht, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Berlin seit einigen Jahren eine der beliebtesten Metropolen der Welt ist. An der Schönheit der Stadt kann es nicht liegen. Denn Berlin ist nicht schön, Berlin ist das Aschenputtel unter Europas Hauptstädten.

Wer hier auf einer Dachterrasse steht, blickt nicht auf die Kuppeln Roms oder auf die Zinkdächer von Paris oder in die Häuserschluchten von New York. Er sieht auch nichts Spektakuläres, irgendwie Aufregendes oder gar Monströses. Keinen Pool im 72. Stockwerk, keinen Palmengarten in schwindelnder Höhe, kein Casino hoch über den Dächern, das dem Spieler nach einem unerträglichen Verlust einen berauschenden Sturz von der Terrasse verspricht. Dem Betrachter bietet sich das Bild einer gleichförmigen Landschaft von vier- bis sechsstöckigen Häusern, deren rote Giebeldächer für Dachwohnungen und üppige Terrassen nicht vorgesehen waren. Erst vor dreißig Jahren, nicht lange vor dem Mauerfall, entdeckten die Westberliner, dass man über den Kastanien und Linden der Stadt bedeutend besser lebt als in ihrem Schatten. Zögernd begannen sie, Fenster und Terrassen in die Dächer zu schneiden. Dort sitzen sie nun in bescheidener Höhe zwischen vereinzelten Büro- und Hotelhochbauten, deren Inspirationsquelle in aller Regel der hochkant gestellte Schuhkarton gewesen ist. Im Westen ragt der Funkturm aus dem Häusermeer, im Osten blinkt der 368 Meter hohe Fernsehturm, in dessen stählerne Kugelplattform die Sonne am Nachmittag ein leuchtendes Kreuz zeichnet – zum Ärger der kommunistischen Bauherren, die mit dem Turm die »Sieghaftigkeit des Sozialismus« beweisen wollten. Die Berliner tauften das Lichtkreuz geistesgegenwärtig auf den Namen »Rache des Papstes«. Die Erscheinung war ebenso verblüffend wie unerklärlich und ließ sich nicht beseitigen. Sie kündigte die Zukunft an: das Ende derDDR.

Die Bewohner in der neuen Stadtmitte mussten mit dem Ausbau ihrer Dachwohnungen bis zur Wiedervereinigung der beiden Stadthälften warten. Und zugegeben: Sie haben eine bessere Aussicht. Sie blicken auf ein paar großstädtische Ikonen – auf die vergoldete Kuppel der wiederhergestellten Synagoge an der Oranienburger Straße, weiter weg auf das Reichstagsgebäude, das Sir Norman Foster durch die aufgesetzte Glaskuppel um Tonnen seines historischen Gewichts erleichtert hat, auf das vom Staub derDDR-Jahre befreite Brandenburger Tor mit der restaurierten Reitergruppe. Und weiter weg, auf das Zirkuszelt von Helmut Jahn und die Hochhäuser von Renzo Piano und Heinz Kollhoff an Berlins einst prominentester Leerstelle: am Potsdamer Platz.

Aber bisher hat kein Fassadenkletterer eines der neuen Hochhäuser für würdig befunden, es zu erklimmen – offenbar sind sie nicht hoch genug. Kein Philippe Petit ist auf die Idee gekommen, zwischen Berlins Bürotürmen am Potsdamer Platz ein Seil zu spannen und darauf hin und her zu laufen. Eine Großstadt, in der ein Hotelneubau mit 118,8 Meter Höhe (das Waldorf-Astoria) einen Höhenrekord melden kann, ist kein Magnet für Extremsportler. Im Vergleich zu den Skylines von Manhattan, Chicago oder auch Frankfurt wirkt der frisch bebaute Himmel von Berlin immer noch wie die Silhouette einer Provinzhauptstadt. Auch sonst fehlt Berlin, von oben gesehen, alles, was eine Metropole ausmacht. Die Stadt hat kein Bankenviertel wie Manhattan oder London, keinen in Jahrhunderten errichteten ehrwürdigen Dom wie Köln oder Paris, kein berüchtigtes Amüsierviertel wie Hamburg. Selbst Berlins Eiffelturm – der schon erwähnte Funkturm – ist eine bescheidene Kopie des Originals in Paris.

Ein Freund aus Rom, der Schriftsteller Edoardo Albinati, erzählte mir von seinem ersten Besuch in Berlin. In den neunziger Jahren stieg er am Bahnhof Zoo aus und sah sich um. Er blickte auf den trostlosen Vorplatz mit seinen Wechselstuben und Imbissständen, auf den im Krieg zerstörten Turm der Gedächtniskirche, auf das Bilka-Kaufhaus mit seinem einst für kühn gehaltenen Fassadenschmuck von schrägen, sich kreuzenden Parallelen, auf den Zoopalast, der ein gemaltes Werbeplakat für einen amerikanischen Actionfilm zeigte. Aber wohin er auc