Picasso kann warten
Ihr Hotel lag am Rande der Altstadt, an einer dieser Prachtstraßen, die mit ihren Nobelboutiquen und teuren Restaurants jene kühle Eleganz ausstrahlen, wie sie nur in Metropolen zu finden ist.
Sina war zum ersten Mal in Barcelona. Der Kongress, zu dem sie ihre Kanzlei geschickt hatte, würde erst morgen beginnen, aber sie hatte ihren Flug so gebucht, dass sie den Nachmittag und Abend nutzen konnte, um die neue Stadt zu erkunden. Sie brauchte nur wenige Minuten, um bis zum Zentrum der Altstadt zu gelangen; von dort war ihr Ziel, das Picasso-Museum in derCarrer de Montcada, nicht mehr weit. Hier, das wusste sie, hing eines ihrer Lieblingsbilder: Der Kuss des Minotaurus. Heute würde sie es ganz aus der Nähe betrachten können.
Sina hatte sich den Weg im Hotel auf einem Stadtplan angesehen, dann aber vergessen, die Karte einzustecken. Zum Glück machte das nichts; an jeder Straßenecke gab es Wegweiser zu den Sehenswürdigkeiten dieses Viertels. Sie zog den Schal fester um ihren Hals und beschleunigte ihren Schritt.
Ach ja, ein Kuss ... Sina hatte schon lange keinen Mann mehr getroffen, der sie interessiert hätte.
Es war Januar, und die Sonne besaß, obwohl sie ihr hell ins Gesicht schien, noch keine Kraft, um sie zu wärmen. Hinter dem Platz, den sie gerade überquerte, vermutete sie den Eingang zum Künstlerviertel. Hier war es schattig, und Sina begann zu frieren; die engen dunklen Gassen, deren Häuser über ihrem Kopf zusammenzuwachsen schienen, rochen nach uralter Feuchtigkeit. Sie hörte den Hall ihrer Absätze auf dem Straßenpflaster und schaute nach einem Schild. Eben noch hatte sie an jeder Ecke eines gesehen, doch hier, in diesem Irrgarten aus alten Mauern, war keines zu entdecken. Zudem ähnelte eine Gasse der anderen. Ohne ihren Stadtplan fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. Sollte sie vielleicht einen der Katalanen fragen, die geschäftig um sie herumliefen? Nein, besser nicht; ihr Spanisch war alles andere als gut, und Katalanisch beherrschte sie gar nicht. Außerdem widerstrebte es ihr zuzugeben, dass sie sich möglicherweise verlaufen hatte. Und selbst wenn: Das Viertel war klein. Es musste doch möglich sein, dieses Museum zu finden! Sina ärgerte sich. Ihr Orientierungssinn war im Allgemeinen recht gut.
Sie blickte auf ihre Füße. Die hohen, lederbezogenen Absätze ihrer Schuhe eigneten sich nicht für eine ausgedehnte Wanderung durch das Labyrinth der Altstadt, aber sie hatte nur dieses eine schicke Paar dabei. Sie seufzte. Ihre Augen suchten nach den schmalen blauen Schildern, die zum Museum wiesen. Sie war sich sicher, es musste ganz in der Nähe sein. An der Ecke zurVia Laietana blieb sie stehen, um sich neu zu orientieren, denn so schnell würde sie nicht aufgeben.
Da sah sie ihn.
Er war ebenfalls stehen geblieben, genauso abrupt wie sie. Als sie in seine Richtung blickt