Kapitel 1
Als die trockene Erde auf den Sarg rieselte, erhoben sich die Hummeln von den gelben Chrysanthemen, den roten Gerbera und weißen Lilien zu einem wilden Tanz. Für einen Augenblick war ihr Summen der einzige Laut in der Stille. »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube«, murmelte der Pfarrer.
Marie fröstelte in der Sonne. Es wollte ihr nicht in den Kopf, daß unter dem Deckel aus hellem Eichenholz Nicole lag. Ausgerechnet Nicole, die so voller Lebenslust, so apfelkuchenblond und strahlend gewesen war wie eines dieser Mädchen aus der Lätta-Reklame.
Viele Kränze schmückten das Grab, einer prächtiger als der andere. Und etwas abseits lag ein Herz aus Margeritenblüten. Das war von Schmolli, dem Hotelportier.
Von welchen Zufällen das Leben abhängt, dachte Marie. Wäre Nicole nicht so eine Schlunze gewesen, hätte sie nicht vergessen, ihren Urlaubsschein abzugeben, dann wäre sie mit ihrem Thorsten in die längst fälligen Flitterwochen nach Djerba gereist. Hätte sich im Sand geaalt und sich von Thorsten die Meerwassertropfen vom Rücken küssen lassen. So war er nach einem Streit allein geflogen und Nicole in Hamburg diesem Verrückten in die Hände gefallen, der sie wochenlang verfolgt, ihr in ihrer Wohnung aufgelauert und sie schließlich umgebracht hatte.
Marie schaute in die Runde. Alle Kollegen aus dem Hansson-Hotel waren gekommen. Ilka Frowein, ihre beste Freundin, verschanzte sich hinter einer dunklen Sonnenbrille. Frau Stades Augen, die häufig so giftig auf Nicole geblickt hatten, waren mit Tränen gefüllt. Dr. Begemann sah aus, als ginge ihn das alles nichts an. Dieter Saalbach starrte zu Boden, und Daniela Holm blickte in den saphirblauen Himmel. Die Mädchen aus dem Schreibpool hielten sich an den Händen. Marie hätte auch gerne jemanden zum Festhalten gehabt, aber Ronaldo war nicht da.
Wie eigenartig? Am Tag von Nicoles Hochzeit mit Thorsten hatte Ronaldo ihr zum erstenmal gesagt, daß er sie liebte. Und am Tag von Nicoles Beerdigung hatten sie ihren ersten großen Krach gehabt, morgens auf nüchternen Magen zwischen Marmeladentoast und Wimperntuschen. Und alles nur, weil sie gewollt hatte, daß Ronaldo mit zum Begräbnis ging. Immerhin war Ronaldo Schäfer der Direktor des Hansson-Hotels. Immerhin liebte sie ihn, und er hatte gefälligst dazusein, wenn sie ihn brauchte.
»Hast du eigentlich vergessen, daß es noch kein Jahr her ist, seit meine Frau gestorben ist?« hatte Ronaldo geschrien und sie dabei geschüttelt, daß ihr Hören und Sehen verging. »Kannst du dir nicht vorstellen, daß es über meine Kraft geht, einen Friedhof zu betreten? Gemeinsam mit einer anderen Frau?«
Doch, das konnte Marie. Sie war ja nicht blöd. Sie wußte auch, daß dieser Streit einen kleinen Riß ins Fundament ihrer jungen Liebe gezogen hatte. Und wenn man nicht rechtzeitig damit begann, die Risse zu kitten, hatte man schnell eine Ruine. Also hatte sie die Klappe gehalten. Was nicht gerade zu den Lieblingsbeschäftigungen einer Marie Malek gehörte.
Durch einen Gitarrenakkord wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ben war ans Grab getreten. Nicoles großer Bruder, Maries kurze Liebe. Ben, der immer noch was von einem verwuschelten Welpen hatte. Er begann zu singen. Ganz innig und ernst. »Always On My Mind«. Beim Refrain verlor er die Fassung. Ein paar Laute kriegte er noch heraus, ein Krächzen, dann heulte er los wie ein Schloßhund.
Da passierte es. Nicoles Freundin Elfie Gerdes, die in der Reihe hinter Ben stand, trat langsam hervor, würdevoll wie eine Königin in ihrem kleinen Schwarzen mit den gekreuzten Bändern vor der Brust, und sang für Ben weiter. Die Kollegen schauten sich verdutzt an. Die Dicke aus dem Schreibpool und eine Stimme wie ein in die Gosse gefallener Engel.
Als der letzte Ton verklungen war, guckte sich Elfie etwas verunsichert um, als habe sie zuviel von sich preisgegeben. Langsam verließen die Trauergäste Nicoles Grab. Personalchef Dr. Begemann hakte seine Assistentin Frau Stade unter. Er rümpfte die Nase. »Singend auf den Friedhof, na ja.«
»Also, ich fand das sehr hübsch«, sagte die Stade und schritt hocherhobenen Hauptes mit einem kleinen schwarzen Kapotthut, den ein lavendelblaues Ripsband schmückte, an der Seite ihres Chefs vom Friedhof. Gefolgt von Daniela Holm und Dieter Saalbach.
Unschlüssig standen die anderen noch zusammen. Und während der warme Wind ein paar Staubpartikel zu ihnen herüberwehte, waren sie alle mit den Gedanken schon wieder bei ihrem Job, dem Hotel und der lauten Welt da draußen, nur allzu bereit, dem Alltag das Feld zu überlassen.
Nur Marie blieb noch einen Moment am Grab zurück. Sanft berührte sie Thorsten, der mit seinen Händen einen rosafarbenen Stoffhasen zerknuffte.