: Stefan Beuse
: Die Nacht der Könige. Roman
: CULTurBOOKS
: 9783944818719
: 1
: CHF 6.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 212
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Stefan Beuse hat einen sehr wirkungsvollen und atmosphärisch dichten Roman geschrieben, der die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verwischt. Ein Text, der länger bei einem bleibt, als die Zeit, die man braucht, um ihn zu lesen. Eine, höchstens zwei Wochen hofft der Werbetexter Jakob Winter, für seinen aktuellen Auftrag zu brauchen, dann will er seiner Familie in den Sommerurlaub folgen. Doch sein Auftraggeber verhält sich während des ersten Termins merkwürdig vertraulich, er scheint Winter zu kennen. Auch seine junge, schweigsame Assistentin Lilly irritiert ihn. Wer ist sie? Und woher kommt diese soghafte Faszination? Bald erinnert sich Winter schemenhaft an eine Nacht vor 10 Jahren, an ein teures Management-Seminar, in dessen Verlauf Moral- und Wertvorstellungen der Teilnehmer aufgeweicht wurden, zur hemmungslosen Entfaltung des eigenen Egos. Ist er am Ende gar in ein Verbrechen verwickelt? Stefan Beuse führt Winter an Abgründe seiner Existenz und uns in poetischen Bildern mitten in das dunkle Herz eines entfesselten Willens zur Macht. Psychologische Hochspannung! »Eine überaus spannende Geschichte, die satt und süffig nach dem Muster eines Psychothrillers erzählt wird.« Martin Lüdke, DIE ZEIT

Stefan Beuse, 1967 in Münster geboren, lebt in Hamburg. Er hat u. a. als Fotograf, Texter und Journalist gearbeitet. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Alles was du siehst«. Stefan Beuse gewann zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 1999 und den Hamburger Förderpreis für Literatur (1998, 2006 und 2013). Im Frühjahr 2005 war er Writer in Residence an der Cornell University in Ithaca, New York. Bei CulturBooks sind bisher die Single »Der Wal«, die Alben »Warten auf die Löwen« und »Wir schießen Gummibänder zu den Sternen« sowie der Longplayer »Kometen« erschienen.

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Vor der Agentur überfuhr er fast eine Taube. Den ganzen Tag saßen sie in der Einfahrt und pickten in halb verfaulten Kadavern. Winter fiel auf, daß er noch nie einen blutenden Vogel gesehen hatte, er fragte sich, ob es überhaupt Blut gab in so einem Vogel, während er den Wagen zwischen Torbens Citroën und Tatjanas Alfa parkte, in die Reihe der Marketingexperten und Kreativen: heißes Blech in allen Farben der DULUX-Palette. Die Verwesung flirrte über dem Asphalt, sechs oder sieben Tauben hatten sich vor dem Eingang versammelt, und gleichmäßig rollten seine Sohlen ab,drei, vier, sie saßen da, als warteten sie auf ihn, und er zählte weiter, in seinem Inneren, wie immer, wenn er in Situationen geriet, die ihn bedrängten: eine Angewohnheit, die er seit jener Nacht nicht hatte ablegen können.

Plötzlich stob der Schwarm auseinander. Winter hielt die Luft an. Nah an seinen Ohren klangen ihre Flügelschläge wie die Rotorblätter eines startenden Hubschraubers; er duckte sich und spürte, daß sein Haaransatz zu jucken begann. Wie Autoscooter prallten sie gegeneinander, stumpf und plump, und er hielt weiter die Luft an, bis ihm die Lunge brannte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und die Tauben wirbelten in Zeitlupe Dreck auf und Federn; er trat nach ihnen, schlug blind mit den Armen, als kämpfte er gegen eine unsichtbare Armee, dann lehnte er sich gegen die Eingangstür, drückte die Klingel und wartete auf das Summen, mit dem die Verriegelung aufgehoben wurde.

»Guten Morgen, HerrWinter«, sagte Alina vom Empfang aus, während sie sich auf ihrem Sessel hin und her drehte, Winter atmete aus und wieder ein, »sind Sie etwa gerannt?« fragte sie mit gespielter Überraschung, und er vermutete, daß sie sich dabei wahnsinnig geistreich vorkam, weil sie sich ja eigentlich duzten. Aber vielleicht war das nur eine gespielte Ermahnung, weil er noch nie zu spät gekommen war, vor allem nicht zu so wichtigen Terminen, also nichts weiter als eine kokette Art auszuprobieren, wie weit sie bei ihm gehen konnte. Er lächelte und erwiderte ihren Gruß freundlich, aber unverbindlich, professionell also, als hätte es diesen Unterton nie gegeben, und war seltsam stolz auf die Souveränität seiner Reaktion. Alinas Lipgloss glänzte im Licht des Halogensternenhimmels über ihnen, und kurz hatte er Lust, an ihrem Hals zu riechen, die warme Haut um ihr Schlüsselbein zu spüren, doch in diesem Moment kam Tatjana aus der Grafik, in einem dunkelblauen Kostüm, dessen Stoff ihn entfernt an Schmetterlingsnetze erinnerte. Sie streckte ihm die schwarze Präsentationsmappe entgegen und sagte, »wir müssen los«, gab ihm einen Kuß in den Nacken und zog ihn zur Tür. Sie roch nach frisch aufgetragenem Make-up und schwerem Parfüm, eine Mischung, die er auf nüchternem Magen kaum ertrug.

Winter drehte sich noch einmal um und lächelte Alina zu, bevor er die Tür hinter sich schloß. Als er mit Tatjana zum Wagen ging, klingelte sein Handy. Er tastete danach und bekam den Inhalator zu fassen. Die Tauben saßen jetzt wieder in der Einfahrt und pickten in etwas herum, von dem er nicht wissen wollte, was es war; das Telefon klingelte weiter, und Winter wühlte in seinen Taschen, spürte die kurze Antenne und zog daran. Sein Handy fiel auf die Steinplatten. Der Akku sprang ab. Er bückte sich, um beides aufzuheben, Tatjana lachte, und als der Akku wieder einrastete, sah Winter, daß er Taubenflaum in das Handy geklemmt hatte.

»Drecksviecher«, sagte er und zog die Nase hoch.

Im Wagen drückte Tatjana eine Kassette ins Radio. Lloyd Cole. Es war so stickig, als hätte das Auto den ganzen Tag in der Sonne gestanden; noch bevor sie eingestiegen waren, hatten sie die Fenster heruntergekurbelt, und zum wiederholten Mal war Winter froh, alles Elektrische aus seinem Wagen verbannt zu haben. Die Vorstellung, im Notfall von der Funktionstüchtigkeit irgendwelcher Schaltkreise abhängig zu sein, hatte ihm i