: Hanna Krall
: Weiße Maria
: Verlag Neue Kritik
: 9783801505066
: 1
: CHF 12.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 188
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Hanna Krall kehrt zu einer autobiographischen Urszene zurück: Eine jüdische Mutter sucht für ihre Tochter Taufpaten und wird von einem christlichen Ehepaar abgewiesen, das in der Kirche im Angesicht Gottes nicht lügen kann. Die Reporterin geht auf Spurensuche; sie möchte herausfinden, was aus den als Taufpaten vorgesehenen Eheleuten wurde. In einer Kombination von persönlichen Erinnerungen und historischer Recherche rekonstruiert die Autorin das Schicksal ihrer Protagonisten. Es geht um Henker und Opfer, Deportationen, Säuberungsaktionen, Denunziationen, kurz darum, was Menschen Menschen angetan haben - vor dem Krieg, während des Krieges und danach. Ihrer Poetik getreu erschafft Hanna Krall aus vielen Einzelschicksalen ein mosaikartiges Bild und ermöglicht somit auch neue Einsichten in die polnische Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Hanna Krall wurde 1935 in Warschau geboren, wo sie bis heute lebt. In Polen sorgte sie mit ihren Veröffentlichungen für Aufsehen, das auch durch ein jahrelanges Publikationsverbot in den 80er Jahren nicht unterbunden werden konnte. Sie hat zahlreiche nationale und internationale Preise erhalten; ihre Werke wurden in siebzehn Sprachen übersetzt. Weitere Titel von Hanna Krall im Verlag Neue Kritik: Die Untermieterin, 1986 Dem Herrgott zuvorkommen, 1992 Tanz auf fremder Hochzeit, 1993 Existenzbeweise, 1995 Hypnose, 1997 Da ist kein Fluss mehr, 1999 Unschuldig für den Rest des Lebens, 2001 Ach du bist Daniel, 2002?Eine ausnehmend lange Linie, 2005 Herzkönig, 2008 Rosa Straußenfedern, 2012

 

Zweiter Teil

 

 

DIE ZWEI LEBEN
DES OBERLEUTNANTS W.

 

 

1. DER WEG

Sie stiegen am Ostbahnhof ein. Der Zug war voll, sie standen im Gang. Das war gut, so konnte das Mädchen aus dem Fenster schauen. Sie drückte die Stirn an die Scheibe und stand einfach da, die ganze Zeit mit dem Rücken zu den Leuten. Das war gut.

Nach zwei Stunden waren sie in Dęblin, von dort nahmen sie den Vorortzug.

Sie sollten nicht nach dem Weg fragen, sondern festen Schrittes geradeaus gehen.

Nicht über den Damm, denn die Fische in den Teichen würden sich erschrecken und der Aufseher verscheuchte gern Leute.

Nicht über die Straße, denn dort stand gern der Volksdeutsche Edek.

Vor dem Krieg hatte ein Jude mit seiner Kutsche die Leute vom Bahnhof abgeholt. Ein anderer Jude hatte mit einer Fuhre ebenfalls Leute hin und her gefahren (ansonsten hatte er auf Hochzeiten Kontrabass gespielt). Die Polen hatten keine Leute gefahren, außer Parzyszek, der die Post und den Briefträger zum Zug brachte.

Die Juden gab es nicht mehr, weder den mit der Kutsche noch den mit der Fuhre, aber Parzyszek war da, man hätte mit ihm fahren können.

Andererseits besser nicht, denn der Briefträger stellte immer viele Fragen.

Also doch über den Damm, zwischen den Teichen hindurch, aber schnell.

 

2. GALANTERIEWAREN

Das Geschäft lag an der Hauptstraße. Ein großes Geschäft mit modischen Galanteriewaren. Die Mutter achtete sehr darauf, dass jedes Halstuch, jede Krawatte, jedes Taschentuch, ja einfach alles schick war. Und dass ihre Krawatten und Halstücher den Damen und Herren des Ortes gut standen.

 

Hinter dem Haus war ein Garten. Im Garten spielte ein Mädchen. Ein Mann kam in den Laden, er schaute nicht in die Regale, interessierte sich nicht für die Krawatten, es ging ihm um das Mädchen: Wer ist die Kleine?

Die Mutter wunderte sich, sie zog wohl sogar die Augenbrauen hoch zum Zeichen aufrichtigen Erstaunens.

Sie fragte ruhig nach: Welche Kleine?

Die Schwarze, hinter dem Haus, erklärte der Mann.

Ach, die. Das ist meine Tochter. Womit kann ich Ihnen dienen?

Mit nichts, wie sich herausstellte, konnte sie ihm dienen, nicht einmal mit den Tüchern mit Hohlnaht, die direkt aus Lublin kamen.

Der Mann verließ den Laden.

Die Mutter wartete. Als er um die Ecke verschwunden war, schloss sie den Laden und nahm das Mädchen an der Hand.

Sie gingen los, über die Straße nach Osten.

Sie bogen nach rechts ab und gingen auf den Damm. Sei still, flüsterte die Mutter. Sonst erschrecken sich die Fische und der Aufseher hört es.

 

nicht über den Damm, sonst erschrecken sich die Fische

 

Jahre später wird sie (die kleine Schwarze) die Leute im Ort fragen, wer der Mann war. Wer das gewesen sein könnte, ihrer Meinung nach.

Ein Einheimischer vielleicht, der auf das Geschäft neidisch war und ihnen schaden wollte.

Ein Einheimischer? Allenfalls Droży