6.
Am Donnerstagmorgen kroch ich verschlafen unter meiner Decke hervor und tastete mich ins Badezimmer. Für heute standen zwei Dinge auf dem Plan: Frau von Wienershausen flog in die Karibik, und das Paket mit meiner Wunderhose musste ankommen. Außerdem hoffte ich auf die Genesung meiner Kollegin, damit ich mich endlich intensiv um meinen perfekten Begleiter kümmern konnte.
Die Wahl meiner Kleidung fiel mir heute besonders schwer, irgendwie schien es, als seien alle langen Oberteile über Nacht geschrumpft. Da ich keinen Wäschetrockner besaß, konnte das nur bedeuten, dass ich ordentlich zugelegt hatte.
Mit finsterer Miene zog ich die total verstaubte Waage unter meinem Badezimmerschrank hervor und schaffte es, bereits beim zweiten Versuch hinzugucken.
Viereinhalb Kilo mehr! Was? Woher? Warum? Völlig entsetzt und genervt verzichtete ich aufs Frühstück, rannte in den Keller, wühlte aus der Kiste aussortierter Pullover aus der dicksten Zeit ein tragbares Modell und verfluchte mich. Verfluchte mich, die Mayonnaise, die Schokohörnchen, Pommes und alles, was ich in den letzten Tagen gegessen hatte.
Stocksauer auf mich selbst und meine Unbeherrschtheit rannte ich noch einmal nach oben und fingerte meine Polaroid aus dem Nachttischschränkchen. Ich stellte mich erneut auf die Waage und fotografierte die Anzeige. Dieses Bild würde ich zusammen mit der Einladung zum Klassentreffen an die Kühlschranktür pinnen. Es würde blinken und warnen wie der Ventilator auf dem Radioaktiv-Zeichen. Entschlossen holte ich den Tesafilm aus der Schublade.
Den Inhalt des Kühlschranks, so viel stand fest, würde ich gleich heute Nachmittag komplett austauschen. Fett raus, Vitamine und alles Gesunde hinein. Viereinhalb Kilo mehr sollten mich nicht entmutigen oder mir den Spaß nehmen. Pah, genau das Gegenteil würden sie bewirken.
Ab dieser Sekunde war ich auf dem allerbesten und schnellsten Weg, so schlank zu werden, dass selbst die mit den Jahren träge gewordenen Bauarbeiter wieder einen Pfiff für mich erübrigen konnten. Ich war ganz sicher und stolz, ich legte los, und zwar sofort!
Bevor ich mich auf den Weg ins Reisebüro machte, verhängte ich sämtliche Spiegel und reflektierenden Gegenstände. Das merkwürdige Bild der Wohnung, die teilweise unter Decken und Laken verschwand, passte zu meiner nicht definierbaren Stimmung.
Erst am Tag des Treffens wollte ich mich wieder in voller Gestalt und Schönheit betrachten oder die Decken noch etwas länger hängen lassen.
Beschwingt und energisch rannte ich die Treppe nach unten zu meinem Wagen. Autofahren? Mit einem Blick auf meine Armbanduhr erkannte ich, dass mir noch genügend Zeit blieb, um das Auto stehen zu lassen, mein Fahrrad aus dem Keller zu schleppen und zur Arbeit zu strampeln. Ohne Frühstück, hochmotiviert und stramm geradelt, das konnte schon ein halbes Kilo weniger bedeuten.
Schwitzend und prustend hob ich mein Rad auf die Straße. An meiner Kondition musste ich auf jeden Fall wieder arbeiten, so wie jetzt rang ich früher nach zwanzig Bahnen Kraulwettbewerb um Luft. Ich schwang mich auf den Drahtesel, um Sekunden später wieder abzuspringen. Vorder- und Hinterreifen waren platt. Die Luftpumpe lag weit entfernt und gut verstaut im Kellerregal.
Ich schloss die Tür erneut auf, um sie zu holen, als mir mein Nachbar vom dritten Stock entgegengrinste. »Na, haben Sie einen Platten? Soll ich Sie schnell mitnehmen?«
Dieser Mann war mir seit seinem Einzug nie sonderlich sympathisch gewesen. Er grüßte mit diesem Ach-bin-ich-gut-Blick und einem Lächeln, das in sein Gesicht eingemeißelt zu sein schien. Nun hatte ich allerdings einige andere Gesichtspunkte, unter denen er betrachtet werden musste. Sein Aussehen genügte, um unter den kritischen Augen von Carola und den anderen Mädels zu bestehen, und er war höflich. Schließlich würde er mich gleich, nachdem er mir mein Rad zurück in den Keller ge