1.1 Wie sich Menschen in ihrer Scham verfangen − Literarische Spuren
Gut bedacht und vorbereitet war die Sitzung, die ich gemeinsam mit meinem systematisch-theologischen Kollegen im Rahmen eines Seminars angeboten habe: »Schuld und Vergebung«, damit haben wir uns ein Semester beschäftigt, es ging theologisch ins Zentrum. Ich hatte die Studierenden angehalten, begleitend zur Lehrveranstaltung einen Roman zu lesen, und zwar Bernhard Schlinks »Der Vorleser«1. Mittlerweile ist das Buch schon zu einem Klassiker avanciert. Der Roman eignet sich vorzüglich zur praktisch-theologischen Lektüre zum Thema »Schuld«, es sollte um individuelle Schuld sowie deren Bewertung gehen und um die Frage, wie Menschen persönlich Schuld wahrnehmen und sich biographisch zu ihr verhalten. Ich erinnere, was erzählt wird:
Zwei sehr ungleiche Lebensgeschichten berühren sich − ihre Geschichte beginnt Ende der 1950er-Jahre im Nachkriegsdeutschland − und sie bleiben ein halbes Leben lang verknüpft und ineinander verhangen; in intimer Nähe zunächst und dann auch auf getrennten Wegen. Der fünfzehnjährige Michael aus gutbürgerlichem Haus begegnet der mehr als doppelt so alten Hanna, einer Straßenbahnschaffnerin. In ihrer Küche und ihrem Bett erwächst eine heimliche Liebesgeschichte. Das »Jungchen«, wie sie ihn immer nennt, auch später noch, wird zu ihrem Vorleser, intim-vertraute Lesestündchen. Alles andere ihres Lebens bleibt ihm verschlossen. Eines Tages ist Hanna aus der Stadt verschwunden. Jahre später begegnet ihr der Jurastudent Michael wieder, im Gerichtssaal, als Angeklagte in einem KZ-Prozess. Sie steht in der Verantwortung für den Mord an Frauen und Kindern, die Schuldfrage im Strafprozess hängt an einem Bericht, den eine der Aufseherinnen – Hanna ist eine von ihnen gewesen – während eines Gefangenentransportes verfasst hatte. Der Marsch hatte die Frauen und Kinder in den Tod geführt, eingesperrt in eine brennende Kirche. Die Kirchentüren waren versperrt geblieben, wie ein nachträglicher Bericht im fatalen Gehorsam notiert. »Ich gebe zu, dass ich den Bericht geschrieben habe« (124), bekennt Hanna. Michael weiß es besser oder vielleicht richtiger: Er weiß es anders. Hanna kann gar nicht lesen und schreiben, das wird ihm jetzt klar. Als SS-Aufseherin ist sie schuldig geworden; hier aber übernimmt sie Schuld, um zu verbergen, dass sie Analphabetin ist. Als Prozessbeobachter greift Michael, mit sich selbst im Konflikt, nicht ein, Hanna wird verurteilt. Und der Roman erzählt dann weiter, wie die beiden Lebensgeschichten über viele Jahre miteinander verwoben bleiben. Ich will dies hier nicht weiterverfolgen.
Die Seminarsitzung ist fehlgeschlagen. Jedenfalls sind die Studierenden auf die intendierte Schuldthematik gar nicht eingestiegen. Stattdessen gab ein Halbsatz aus der Erzählung das Stichwort vor, um das sich dann die ganze Stunde dreht: »... − stell dir einfach vor, dass der Angeklagte sich schämt.« (133) Aus dieser Aufforderung an die Leserin und den Leser eröffnet sich, so kam im Gespräch zutage, ein weites semantisches Feld von Schamgefühlen im ganzen Roman: Es ist die Rede von beschämendem Versagen, von Scheu, von Verlegenheit, vom Geheimnis, das gewahrt oder preisgegeben wird, von Bloßstellung und vielem mehr. In der ganz anders geplanten Debatte wurde deutlich: Offenbar wirkt das Thema »Scham« stärker als das Thema »Schuld«. Als eines der »starken Gef