Mering, Bayerisch-Schwaben
Vorsichtig nahm Sonja die Speicherkarte aus dem Aufnahmegerät und steckte sie in ihren Laptop. Dann kochte sie sich einen Tee und setzte sich. Inzwischen war es ihr zur lieb gewonnenen Gewohnheit geworden, sich jeden Abend ihre ganz persönliche Soap anzuschauen – so wie andere ihre Vorabendserien sahen und in die Leben derTV-Helden eintauchten, als wäre es ihr eigenes. Nicht jede Folge war gleichermaßen spannend, doch das konnte man vonTV-Serien auch nicht behaupten. Im Gegensatz zum Fernsehen war Sonjas Reality-Soap aber nie vorhersagbar.
Die Bilder von heute waren besonders wacklig. Sattes Grün flog vorbei, es wurde dunkel, dann wieder hell. Dann kehrte Ruhe ein. Die Kamerafrau saß wahrscheinlich gerade unter einem Busch. Vieles war aus einer Perspektive dreißig Zentimeter über dem Boden aufgenommen. In Blickrichtung der Kamera war eine Gestalt auszumachen, die im Bikini auf einem Badehandtuch im Gras lag. Sonjas Nachbarin Lorelai Münzinger. Wie konnte man sich in diesem Alter nur Lorelai nennen?, fragte sich Sonja. Lore wäre passender gewesen. Die Erklärung lautete, dass die Nachbarin ein großer Fan der »Gilmore Girls« war. Lorelai Münzinger hatte ursprünglich Ursula geheißen. Den neuen Namen hatte sie allen Ernstes offiziell eintragen lassen. Wenn Post mit dem Namen Ursula Münzinger kam, schickte sie diese als unzustellbar retour.
Das alles wusste Sonja von Max' und Idas Mutter. Die Zwillinge besuchten die Hortgruppe, in der Sonja bisweilen aushelfen durfte. Die Mutter von Max und Ida war eine ganz normale Schwäbin und fand Kinder, die Kevin (»kein Name, sondern eine Diagnose«) oder Chayenne hießen (»ist das nicht ein Pfeffer?«), ganz grauenvoll. Sonja auch, aber damit musste sie in ihrem Job natürlich hinterm Berg halten. Außer Max und Ida trug in der Pumuckl-Gruppe nur Franziska einen eher klassischen Namen. Ansonsten gab es drei Amelies, eine Alissa und eine Elisa. Bei den Jungen häuften sich die Namen auf L: Louis, Luca, Leon und Leo.
Bei den Hortkindern, die nach der Schule kamen und gegen fünf abgeholt wurden, half Sonja aber wie gesagt nur aus. Eigentlich war sie im Gebrüder-Grimm-Haus eingesetzt, wo es jedoch alles andere als märchenhaft zuging. Die Bezeichnung »Heilpädagogisches Kinderheim« war wohl auch ironisch gemeint. Ihre Chefin war eine Hexe aus dem ehemaligen Osten, mehr Gefängniswärterin denn Pädagogin. Und Heim? Erziehungsanstalt traf es viel eher.
Immer wenn Sonja zur Arbeit fuhr, nahmen ihre Magenschmerzen proportional zur Fahrstrecke zu. Aber kündigen? Dann hätten die armen Kinder ja gar niemanden mehr gehabt. Die kleine Elena zum Beispiel, deren montenegrinische Mutter ihr als Baby Wodka in die Flasche gegeben hatte, damit sie endlich einschlief. Es hatte lange gedauert, bis das Jugendamt eingeschritten war. Erst als die Kleine bei scharfen Minusgraden nur mit einem Hemdchen bekleidet barfuß durchs Dorf geirrt war und die Polizei die Kleine aufgegriffen und ins Krankenhaus gebracht hatte – erst da war im Amt jemand aufgewacht. Elena war ins Heim gekommen. Die Mutter lebte inzwischen die meiste Zeit wieder in Montenegro, der russische Kindsvater in Österreich. Elena war ein stilles Mädchen, das Vertrauen zu Sonja gefasst hatte. Sonja war auch die Einzige, mit der sie ganze Sätze sprach.
Das Bild flackerte. Wieder war verwackeltes Grün und Grau zu sehen, es folgte ein kurzer Blick in den blauen Himmel. Dann hörte die Bewegung auf. Vermutlich lag die Kamerafrau gut versteckt unter einem anderen Busch. Die Nachbarin drehte ihren dünnen Körper von der Bauchlage auf den Rücken. Dabei sprangen die Brüste wie zwei Plastikbälle nach oben. Da musste einiges an Silikon verbaut worden sein.
Sonja schätzte Lorelai Münzinger auf weit über fünfzig. Früher war sie mal mausbraun oder aschblond gewesen, nun trug sie glänzendes Lorelai-Brünett. Dazu gab es neuerdings Schlauchbootlippen, und außerdem hatte man ihr das Gesicht nach hinten getackert. In einer dieser Absaugekliniken hatte sie mindestens z