1 Einladung zur Bildungsforschung
Bildungsforschung hat in den letzten Jahren eine politische Aufwertung erfahren. Woran liegt das? Ein Grund ist darin zu sehen, dass Bildungsforschung im Kontext ihrer Orientierungs-, Aufklärungs- und Steuerungsrelevanz dazu beiträgt, tatsächliche Zusammenhänge zu erkennen, ideologische Verschleierungen zu durchschauen, Vorurteile zu eliminieren, Urteile des lehrenden, organisierenden und erziehenden Personals und der sich Bildenden aufzuklären sowie rationale Begründungen bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen zu ermöglichen. In diesem Buch wird aufgezeigt, dass die Bildungsforschung gefordert ist, unter Berücksichtigung vergleichender und historischer Perspektiven die sich fortwährend wandelnde Bildungsrealität in die pädagogische Reflexion einzubringen. Trotz des inter- und multidisziplinären Charakters der empirischen Bildungsforschung wird davon ausgegangen, dass die zentrale Bezugsdisziplin die Erziehungswissenschaft respektive die Pädagogik ist. Eine Übersicht über den Aufbau und die Intentionen des vorliegenden Bandes sowie über die zentralen Fragestellungen wird im Folgenden gegeben.
Was ist das Anliegen der Bildungsforschung?
Empirische Bildungsforschung steht seit ihrem Beginn in den 1920er Jahren und noch konkreter seit Anfang der 1960er Jahre in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Bildungs- und Sozialplanung sowie der Bildungspolitik. Insbesondere die Reformmaßnahmen und der Ausbau des Bildungswesens auf nationaler und internationaler Ebene haben verstärkt zur nahezu kontinuierlichen Entwicklung und Differenzierung der Bildungsforschung geführt. Die wichtigste Aufgabe der Bildungsforschung liegt darin, wissenschaftlich begründete Informationen bereitzustellen, an der sich die Bildungs- und Erziehungspraxis orientieren kann, um auf dieser Grundlage rationale und ideologiefreie bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen treffen zu können.
In den 1960er Jahren entstand mit dem Aufschwung der Bildungsplanung, also des systematischen und wissenschaftlich gestützten Nachdenkens über die Zukunft des Bildungssystems, sehr schnell eine größere Zahl außeruniversitärer Einrichtungen der Bildungsforschung. Neben den staatlichen Trägern (Bund und Länder) waren von Anfang an auch private Stiftungen am Aufbau von Einrichtungen der Bildungsforschung beteiligt (vgl. Weishaupt/Steinert/Baumert 1991). Gleichzeitig führte der Ausbau der Hochschulen im Kontext der Bildungsexpansion zu einer fachlichen Differenzierung und in diesem Zusammenhang auch zu einer partiellen Übernahme des sozialwissenschaftlich-empirischen Ansatzes in den Bereich der Bildungsforschung, ein forschungsmethodisches Paradigma, das mittlerweile durch neurowissenschaftliche Ansätze ergänzt wird (vgl. OECD 2007). Bis heute ist die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates (1974) richtungsleitend, der Bildungsforschung als die Untersuchung der Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen in institutionellen und gesellschaftlichen Kontexten definierte und der festhielt, dass sie die Lehr- und Lernprozesse in schulischen und außerschulischen Bereichen sowie auch in informellen Sozialisationsbereichen thematisieren solle. Stand anfangs die Überprüfung von Reformen und pädagogischen Konzepten im Vordergrund des Forschungsinteresses, wurde in den 1970er und 1980er Jahren, infolge des öffentlich als immer wichtiger eingeschätzten Bildungs- und Erziehungssystems, zunehmend die organisatorische und ökonomische Einbettung des Bildungswesens in Staat und Gesellschaft fokussiert (vgl. Cortina et al. 2008).
Heute sind es die Herausforderungen des globalisierten Wettbewerbs der Industrienationen, des demografischen Wandels, des chancengerechten Bildungszugangs im Kontext des Lebenslangen Lernens über die Lebensspanne (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010) sowie die Möglichkeiten eines Beitrags zur innovativen Gestaltung einer demokratischen Wissensgesellschaft, die die Erwartungen an die Bildungsforschung bestimmen. Vor dem Hintergrund, dass Bildungsprozesse von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und verschiedenen individuellen Entwicklungsfaktoren beeinflusst werden und die Bildungsforschung daher von mehreren Fachdisziplinen wie der Soziologie, der Sozialen Arbeit, der Psychologie, der Geschichte oder den Wirtschaftswissenschaften getragen wird, ist die integrierende Bezugsdisziplin der Bildungsforschung die Erziehungswissenschaft bzw. die Pädagogik (vgl. Tippelt/Schmidt 2009). Jeder wissenschaftliche Teilbereich, der wie die Bildungsforschung interdisziplinär von mehreren wissenschaftlichen Disziplinen beeinflusst wird, bedarf der Zusammenführung von Befunden, Erkenntnissen und methodologischen Grundlagen. Die Erziehungswissenschaft leistet zwar ihren eigenen theoretischen historischen und empirischen Beitrag zum Verstehen des Bildungssystems, übernimmt darüber hinaus aber auch diese integrierende Funktion. Bislang liegt die Aufgabe der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften wesentlich im Verantwortungsbereich der Erziehungswissenschaft, so dass es sinnvoll ist zu versuchen, eine integrierende und die verschiedenen Perspektiven aufnehmende Sicht der Bildungsforschung zu formulieren. Die durch die Herausforderungen nahe liegenden spannungsreichen Themen der Bildungsforschung waren und sind die Modernisierung und Effektivierung, aber auch die Demokratisierung sowie die Inklusions- und Kulturvermittlung des Bildungssystems.
Werden Bildungswege durch die Familie beeinflusst?
In Kapitel 2 des vorliegenden Bandes werden fiktive, aber durchaus exemplarische Fallbeispiele von vier Familien dargeleg