Kapitel 2
Zorn
Robert, ein Familienvater, kommt auf dem Flughafen an, von wo aus er in den Urlaub starten will. Er muß aber erfahren, daß alle Flüge des Tages auf Grund eines Streiks gestrichen worden sind. Robert beschimpft die Hostessen. Seine Frau versucht, ihn zu besänftigen; die Leute gucken; Roberts Töchter möchten am liebsten im Erdboden versinken.
Gerade in dem Augenblick, da Catherine nach zehnminütiger Suche endlich einen freien Parkplatz entdeckt, fährt ein anderes Auto an ihr vorbei und stößt in die Parklücke. Voll Wut rammt Catherine absichtlich die Stoßstange des Vordränglers.
Der achtjährige Adrien hat zum Geburtstag endlich den Roboter bekommen, den er sich seit Wochen gewünscht hatte. Er schafft es jedoch nicht, die einzelnen Teile zusammenzusetzen, und am Ende trampelt er heulend auf seinem Geschenk herum.
Wie kann es sein, daß Leute, die normalerweise ganz vernünftig sind (selbst Adrien ist ein besonnener kleiner Junge), auf diese Weise Dinge tun, die häufig ärgerliche Folgen haben? Und was soll man erst über die folgende Geschichte sagen, in der Véroniques Vater (gewöhnlich ein so ruhiger Herr) in Zorn gerät?
Das Gesicht des Zorns: vom Papa bis zum Papua
Ich erinnere mich noch gut, daß ich als kleines Mädchen (ich war damals vielleicht sechs Jahre) eines Tages von meinem Vater zum Angeln mitgenommen wurde. Ich war ganz aufgeregt, denn für mich war es das erste Mal, und ich hielt es für ein Privileg, denn meine Mutter begleitete ihn niemals. Nachdem wir eine Stunde warteten und die Zeit mir lang zu werden begann, hat etwas angebissen; die Angelsehne spannte sich sehr stark. Ich sah, wie mein Vater voller Konzentration an der Rolle drehte und dazu an der Angel zog. Im grünlichen Wasser konnte man einen großen Fisch erkennen. Meinem Vater gelang es, ihn mit dem Kescher ans Ufer zu holen (es war ein sehr schöner Zander), und er warf den noch zappelnden Fisch in einen großen Plasteeimer. Ich beugte mich nach vorn, um das Tier besser sehen zu können, glitschte aus und stieß den Eimer mitsamt Inhalt ins Wasser, worauf der Zander auf Nimmerwiedersehen verschwand. Ich schaute zu meinem Vater hoch. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Rot vor Wut, mit verkrampften Zügen, starrem Blick und zusammengebissenen Zähnen, ballte er die Fäuste und mußte sich offensichtlich zurückhalten, mich nicht zu schlagen. Ich schrie und verbarg mein Gesicht in den Händen. Es ist dann aber nichts passiert. Als ich die Augen wieder aufmachte, hatte er mir den Rücken zugedreht und versetzte dem Gebüsch die heftigsten Fußtritte.
Ich erinnere mich noch gut an dieses Erlebnis, denn mein Vater war ansonsten ein sehr ruhiger Mann, der so gut wie nie in Zorn ausbrach.
Eine solche Szene wirft mehrere Fragen auf. Weshalb steigert sich der Vater, der doch ein vernünftiges Wesen ist, derart in seinen Zorn hinein, obwohl der Fisch sowieso verloren ist und die kleine Tochter es nicht mit Absicht gemacht hat? Warum versetzt er den Büschen, die ihm nichts zuleide getan haben, Fußtritte? Und weshalb diese Grimassen, dieser puterrote Kopf – Zeichen, die Véronique schon als Sechsjährige ohne Mühe deuten konnte?
Ist solch ein Zorn nun eine weltweit verbreitete Emotion? Wenn ein Papua oder ein Chinese zu Zeugen dieser Szene geworden wären, hätten sie dann die Emotion des in seinem Anglerglück frustrierten Vaters erkannt und verstanden? Und unsere fernen Vorfahren, die vor fünfzehntausend Jahren vom Jagen, Sammeln und Fischen lebten, hätten sie diesen Zorn verstanden?
Die Stinklaune des Jägers und Sammlers
Weil es nicht möglich ist, sich um fünfzehntausend Jahre zurückversetzen zu lassen, hat der Anthropologe Paul Ekman1 wenigstens fünfzehntausend Kilometer zurückgelegt: Ende der sec