: Bernhard Strauß, Helmut Kirchmann, Barbara Schwark, Andrea Thomas
: Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung Zum Verständnis sexueller Störungen aus der Sicht interpersonaler Theorien
: Kohlhammer Verlag
: 9783170280663
: 1
: CHF 26.90
:
: Psychologie
: German
: 199
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Dieses Buch verbindet drei verschiedene theoretische Felder: die Bindungstheorie, klinische Theorien der sexuellen Entwicklung und die interpersonale Theorie der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung. Neben einer Einführung in diese Theorien werden anhand von zwei Falldarstellungen Möglichkeiten der unterschiedlichen Betrachtungsweisen demonstriert. Speziell im Zusammenhang mit sexuellen Störungen, die immer auch Beziehungsdimensionen betreffen, sind interpersonale und bindungstheoretische Ansätze sinnvoll. Das Buch soll Anstöße geben, die Sexualität aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu verstehen.

Prof. Dr. Bernhard M. Strauß ist Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum der Friedrich-Schiller-Universitä Jena. Dipl. Psych. Helmut Kirchmann und Dipl. Psych. Andrea Thomas sind wissenschaftliche Mitarbeiter(innen) des Instituts. Dipl. Psych. Barbara Schwark war lange Jahre am Institut tätig und ist nun Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis.

1 Einleitung: Sexuelle Entwicklung1


Die Sexualität, von der Freud sagte, sie gehöre zu den „gefährlichsten Betätigungen des Individuums“ (Nunberg& Federn, 1977), kann auf unterschiedliche Weise definiert werden:

  • Sexualität ist eine biologisch verankerte Form des menschlichen Erlebens, die aber nicht notwendigerweise manifest werden muss (Schorsch, 1975).
  • Sexualität ist ein vielschichtiger, zahlreiche Aspekte umfassender Verhaltens- und Erlebensbereich, der durch eine enge Verknüpfung von körperlichen und psychischen Prozessen gekennzeichnet ist (Bancroft, 1986).
  • Beim Menschen hat die Sexualität neben ihrer biologischen Funktion (Fortpflanzung) eine große Bedeutung für die Selbstbestätigung (narzisstischer Aspekt der Sexualität) und eine zentrale interpersonale Funktion (Sexualität als Mittel der Bezogenheit und Beziehungsgestaltung) (Bancroft, 1989).
  • Sexuelles Erleben, sexuelle Erregung und sexuelle Lust sind in starkem Maße subjektiv und beeinflusst durch biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren.

1.1 Linien der sexuellen Entwicklung


Die Entwicklung der Sexualität ist multidimensional und immer in Bezug auf den komplexen soziokulturellen Kontext zu betrachten. Bancroft (1986) schlug ein interaktionelles Modell der sexuellen Entwicklung vor, in dessen Rahmen verschiedene Entwicklungsstränge differenzierbar sind, die sich zwar zunächst relativ unabhängig voneinander entwickeln mögen, dann aber zunehmend miteinander verschränkt bzw. verwoben werden. Die sexuelle Entwicklung kann somit anhand einerMatrix von Entwicklungslinien oder Entwicklungskonstituenten differenziert werden, die zusammengenommen die Phänomenologie des Sexuellen bestimmen. Diese Linien der sexuellen Entwicklung beziehen sich auf biologische Funktionen als Basis für die Entwicklung des Erlebens und Verhaltens, Differenzierungen sexueller Motive und Bedürfnisse, die Entwicklung sexueller Reaktionen und sexueller Reaktionsfähigkeit, die Entwicklung von Bindung bzw. Bindungsfähigkeit und möglicher Funktionen der Sexualität in Beziehungen, die Entwicklung der Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle, sexueller Orientierungen und des manifesten sexuellen Verhaltens (Strauß, 2005).

Diebiologische Differenzierung des anatomischen/genitalen Geschlechts ist naturgemäß eine wesentliche Grundlage für die sexuelle Entwicklung. Diese Differenzierung manifestiert sich primär auf chromosomaler Ebene (genetisches Geschlecht, Determinierung), auf der Ebene der gonadalen Entwicklung (Keimdrüsengeschlecht), der Ebene der inneren (gonoduktalen) und äußeren Geschlechtsmerkmale sowie auf der Ebene der geschlechtstypischen Differenzierung des Gehirns (für Details siehe Beier, 2007).

DieEntwicklung sexueller körperlicher Reaktionen setzt in der Regel eine ungestörte Entwicklung der Geschlechtsorgane voraus, die in einem frühen Stadium der pränatalen Entwicklung gebahnt wird (Ausnahmen sind möglich; so wird berichtet, dass einige Menschen mit körperlich-sexuellen Fehlentwicklungen, wie etwa dem Adrenogenitalen Syndrom, durchaus reaktionsfähig sein können, siehe Richter-Appelt, 2004). Ultraschalluntersuchungen machen deutlich, dass männliche Embryonen bereits Erektionen entwickeln. Außerdem sind Hand-Genitalkontakte in utero bei beiderlei Geschlecht beschrieben. Es ist also möglich, dass bereits der Fötus genitalbezogene Lust erlebt (Calderone, 1985). Die Kapazität für genitale Reaktionen besteht bei Jungen und Mädchen wahrscheinlich bereits vor der Geburt. Eine Reihe von Studien belegt, dass Säuglinge beiderlei Geschlechts bereits in den ersten Lebensmonaten mit den Genitalien spielen u