Hemingway und Tamino
Zu blöd, dass fast schon wieder Schlafenszeit ist. Mama denkt immer, dass Millie zur gleichen Zeit wie ihre kleine Schwester ins Bett gehen soll. Na gut, sie darf dann noch ein bisschen lesen … solange es draußen einigermaßen hell ist. Die Vorhänge im Kinderzimmer sind zum Glück gelb und lassen ausreichend Licht durchscheinen. Lesen mit Taschenlampe … das haben Papa und Mama verboten. Weil Trudel auf die Idee kommen könnte, dass sie dann noch mit ihrem Feuerwehrauto spielen darf. Lesen kann sie ja nicht. Sie ist erst drei Jahre alt. Aber Krach machen mit dem Tatütata-Auto … das kann sie!
Nix da. Sie soll einfach nur ruhig mit ihrem Nuckelhasen kuscheln. Oder mit dem Jogi-Buh-Buh-Bären. Obwohl … ihrFavorit ist im Moment Tamino, das Plüschtier, das Tante Gertrud ihr neulich mitgebracht hat. Das Pferdchen warder Hit.
Und Millie hat eine Halskette bekommen!Rosa Sweety Horse! Ist auch toll.
Als Mama Millie und Trudel jetzt daran erinnert, dass sie sich langsam fürs Bett fertig machen sollen, protestiert Millie: »Hast du vergessen, dass ich erst Hemingway Gute Nacht sagen muss?«
Mama seufzt aus tiefstem Herzen.
Das ist doch inzwischen schonein Ritual, Mama!
Seit ein paar Wochen läuft Millie nämlich jeden Abend über den Trampelpfad in der Böschung runter zum Spielplatz, dann hopplahopp weiter bis zur Straße. Ja, ja … sie schaut nach links und nach rechts und dann wieder nach links, bevor sie die Fahrbahn überquert und die Wiese erreicht. An der Ecke von dem Grundstück, wo der brummige Herr Mayer einen offenen Stall aufgestellt hat, hält sich abends Hemingway auf, das bejahrte Pferd von Herrn Mayer, das Tag und Nacht mutterseelenallein auf der Weide steht.
»Sag mal, wieso besuchst du eigentlich ständig diesen alten Gaul?«, fragt Papa. »Der ist doch bestimmt schon blind …«
»… und bekommt jetzt sein Gnadenbrot«, führt Mama den Satz zu Ende.
»Der kann ja jeden Tag …« Papa verstummt. Er soll bloß still sein!
Das mit dem Gnadenbrot, das der alte Mayer seinem Pferd gewährt, findet Millie prima. Sie mag den Mann trotzdem nicht. Der grummelt sich nur was in den Bart und schaut Millie skeptisch an, wenn er sie am Zaun der Weide stehen sieht. Dabei bringt Millie Hemingway immer etwas Brot mit, harte, trockene Weißbrot- oder Graubrotscheiben, die ihr das Pferd mit dem Maul aus der Hand schnappt und krachend zermahlt. Die Brocken, die dabei auf den Boden fallen, findet Hemingway nicht … vielleicht sieht er wirklich schlecht und alle Zähne wird er auch nicht mehr haben. Er rupft den ganzen Tag lang frisches Gras. Sonst hat das Pferd nichts mehr zu tun.Ausgedient! Hat früher wahrscheinlich jahrelang für den alten Mayer schuften müssen. Auf dem Apf