: Daniel Kehlmann
: Kommt, Geister Frankfurter Vorlesungen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644045910
: 1
: CHF 10.00
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: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wieso reichen neun Minuten Peter Alexander, um Günter Grass dankbar zu sein? Warum ist Vergessen eine anstrengende Übung, Verdrängung harte Arbeit? Entstehen Gespenster aus unserer Angst vor der Vergangenheit? Und könnte es sein, dass Daniel Kehlmann, den als Kind ein Buch nächtelang mit Albträumen geplagt hat, eben dadurch später zum Schriftsteller geworden ist? Um diese und andere Fragen kreisen seine fünf bestechend klaren und virtuos durchkomponierten Vorlesungen, die er als Inhaber des ältesten und renommiertesten deutschen Gastlehrstuhls für Poetik im Sommer 2014 an der Frankfurter Goethe-Universität gehalten hat. Mit einem Shakespeare-Zitat als Titel - «Kommt, Geister, die ihr lauscht auf Mordgedanken» - entführen sie in literarische Schattenwelten voller Zwielicht und Echos, Falltüren und Gespinste. Daniel Kehlmann zeigt auf, wie sehr die nachhallenden Schrecken der deutschen Vergangenheit sein Werk grundieren, schreibt über die Geister, Gespenster, Zombies, Narren, Halbmenschen in den Werken von Autoren wie Jeremias Gotthelf, J.R.R. Tolkien, Shakespeare, Grimmelshausen, Leo Perutz. Und gibt damit auch Auskunft über sich.

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

Illyrien


In jedem Film mit Peter Alexander gibt es eine Musikeinlage für die jungen Leute. Von irgendwem wird etwas Flottes gefordert, etwas Modernes, und sogleich tanzt man mit wackelnden Knien und schwingenden Hüften, und dazu spielt eine Band – nein, natürlich nicht Rock ’n’ Roll oder Jazz, sondern deutsche Schlagermusik, aber der Sänger, manchmal Peter Alexander selbst, manchmal Gus Backus oder Bill Ramsey, trägt immerhin den deutschen Text mit amerikanischem Akzent vor und ruft zwischen den Strophen «Hey», «Oh» und «Yes». So sieht für die Zwecke der deutschen Komödie Wildheit und Jugend aus, so die große Welt, die man für vier Minuten hereinlässt. Und ist die gespenstische Einlage vorbei, geht der Film weiter, als wäre nichts geschehen.

Vor einiger Zeit, Günter Grass hatte gerade sein Gedicht über die israelische Außenpolitik veröffentlicht, geriet ich mit Amerikanern, die Deutsch können und das Land gut kennen, in eine Diskussion: Was für ein albernes Gedicht, wurde da gerufen, welch ein Wichtigtuer, und überhaupt, immer dieses Politikergehabe, das Moralisieren! Mir schien das alles nicht falsch, aber plötzlich aufsteigende Erinnerungen an die Samstagnachmittage meiner Kindheit in Wien, als es nur zwei Fernsehprogramme gab, von denen eines bloß ein buntes Ding namensTestbild zeigte, sodass man dankbar ansah, was immer auf dem anderen geboten wurde, ließen mich das iPad hervorholen.

«Ihr glaubt, ihr versteht Deutschland. Aber ihr wißt nichts, wenn ihr das nicht kennt.» Und ich tipptePeter Alexander und wählte den ersten Film, den YouTube mir anbot:Peter schießt den Vogel ab.

Nach fünf Minuten wurde ich leise gebeten abzuschalten, nach sieben Minuten wurde ich laut gebeten abzuschalten, nach neun Minuten wurde mir Gewalt angedroht, und ich schaltete ab. Müde sahen wir einander an.

«Und das haben Leute gesehen?»

«Das war der beliebteste Entertainer Deutschlands. In den fünfziger Jahren, in den sechziger Jahren, in den siebziger Jahren und auch noch in den Achtzigern.»

Und auf einmal hatte keiner von uns mehr Lust, über die Gruppe 47 zu spotten: Wir hatten ihrem Anderen ins Gesicht gesehen, der Film gewordenen Verdrängung. Auf einmal mochten wir Günter Grass wieder. Auf einmal waren wir ihm dankbar.

 

 

Unter dem kühlen TitelProbleme zeitgenössischer Dichtung eröffnet Ingeborg Bachmann 1959 die Reihe der Frankfurter Vorlesungen. Im selben Jahr erscheintDie Blechtrommel, und der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erreicht, dass der Bundesgerichtshof die «Untersuchung und Entscheidung der Strafverfolgung» in Sachen Auschwitz dem Landgericht Frankfurt am Main überträgt. Endlich kann Bauer beginnen, das vorzubereiten, was unter dem Namen «Auschwitz-Prozeß» in die Geschichte eingehen wird. Im Jahr 1959 bringt Peter Alexander drei Filme heraus:Schlag auf Schlag, Ich bin kein Casanova undPeter schießt den Vogel ab.

Ingeborg Bachmann ist dreiunddreißig, und ihre Vorlesungen sind ein Versuch, Anschluss zu finden an eine unerreichbar fern gewordene Weltliteratur. «[Es] bleibt uns allen lang verborgen, was an Neuem in anderen Ländern entsteht, meist mit der Verspätung von ein, zwei Generationen erfahren wir es.» Ihre Vorlesungen sind ein Spiel aus Andeutung, Verschlüsselung und Klarheit, und sie hält sie in einem seltsamen Land. Auf das Verbrechen folgt die Verdrängung, auf den Schrecken die Neurose, auf die Hölle die Farce. «Halten Sie mich nicht für allzu engstirnig, daß ich darauf beharre, auf Schuldfragen in der Kunst, und daß ich sie derart in den Vordergrund rücke.» Denn man arbeite ja nicht in irgend