: Christoph Lindenberg
: Rudolf Steiner
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644541115
: 1
: CHF 10.00
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rowohlt E-Book Monographie Rudolf Steiner ist einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Entwürfe anderer Wissenschaft, neuer Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft gehören zum spirituellen Unterstrom unserer Kultur. Diese Darstellung seines Lebens, Denkens und Wirkens rückt die Entwicklung Steiners vom Naturwissenschaftler und Goetheforscher zum Vertreter der Theosophie und schließlich zum Begründer und Organisator der modernen Anthroposophie in ein neues Licht. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Christoph Lindenberg, Jahrgang 1930, wuchs im Landschulheim am Solling bei Holzminden auf, studierte in Göttingen und Freiburg und war von 1955 bis 1980 Waldorflehrer. Seit 1980 arbeitete er als Historiker und lehrte am Seminar für Waldorfpädagogik in Stuttgart. Lindenberg starb am 20. April 1999. Veröffentlichungen: Individualismus und offenbare Religion. Rudolf Steiners Zugang zum Christentum, 1970; Waldorfschulen: angstfrei lernen, selbstbewußt handeln. Reinbek bei Hamburg 1975; Die Technik des Bösen. Zur Vorgeschichte und Geschichte des Nationalsozialismus. Stuttgart 1978; Die Lebensbedingungen des Erziehens. Reinbek bei Hamburg 1981; Geschichte lehren. Stuttgart 1981; Vom geistigen Ursprung der Gegenwart. Stuttgart 1984; Rudolf Steiner - eine Chronik. Stuttgart 1988; Motive der Weihnachtstagung im Lebensgang Rudolf Steiners, Stuttgart 1994; Rudolf Steiner. Eine Biographie in zwei Bänden. Stuttgart 1997.

Die Wiener Zeit 1879–1890


Die Südbahn-Direktion war kulant. Zum 1. August 1879 versetzte sie Johann Steiner auf einen kleinen Bahnhof in der Nähe Wiens, damit sein Sohn von dort aus die k.k. Technische Hochschule besuchen könne. So kam Rudolf Steiner im August 1879 zum ersten Mal nach Wien. Vom Südbahnhof kommend, überquerte er die Ringstraße, an der in jenen Jahren die in allen möglichen historisierenden Stilen errichteten Prachtbauten ihrer Fertigstellung entgegengingen. Sein Ziel aber waren die Buchhandlungen der Innenstadt. Hier erwarb er sich, wonach er sich schon lange sehnte: eine Reihe philosophischer Bücher. Die zwei Monate, die ihm bis zum Beginn des Studiums blieben, vergrub er sich in die Philosophie des deutschen Idealismus, von der in Österreich sonst kaum die Rede war. Namentlich von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre erhoffte er sich eine Rechtfertigung und Klärung seiner Erlebnisse und Gedanken. Sein besonderes Interesse richtete sich auf das menschliche «Ich» als dem Geist im Menschen. So galt seine Lektüre der «Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre» weniger dem historischen Fichte als der Selbstklärung, und Steiner begann Fichtes Wissenschaftslehre für sich umzuschreiben. Dabei entdeckte er zunächst, daß das von Fichte postulierte «Ich»immer und immer nach rückwärts entschlüpft, wenn man es zum Objekt der Betrachtung machen will[31]. Aber, so sagte sich Fichte-Steiner, obwohl das aktuelle Ich nicht objektivierbar ist, kann man sich der geistigen, gedanklichen Tätigkeit doch bewusst werden: …wir können nicht wissen, was es ist, sondern nur was es tut. Das Ich ist durch sein Tätigsein[32] gegeben. Das nächste Problem, das sich für Steiner stellte, war, von dem so gefassten Ich den Übergang zur Welt zu finden. Hier scheiterte er. Das Fragment bricht ab. In seiner Autobiographie erinnert er sich:Daß das «Ich», das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein.[33] Natürlich sind solche Studien nicht unbedingt die angemessene Vorbereitung für den Studienbeginn an einer Technischen Hochschule, und hätte Steiner sich auf diese inneren Fragen beschränkt, so hätten sie ihn leicht stolpern lassen. Zum Glück aber hatte Steiner viele und weitgespannte Interessen, die ihn in das Wiener Leben hineinführten, und einen gesunden Menschenverstand, der ihm sagte, dass er seinBrotstudium[34] zunächst pflichtgemäß betreiben müsse – hing doch von den fünf Prüfungen, die er am Ende jedes Semesters zu absolvieren hatte, die Weiterzahlung seines Stipendiums ab.

Als mittelloser Student «vom Lande» kommend, konnte sich Steiner nur schritt- und ausschnittsweise in das Wiener Leben hineinfinden. Es gab viele Bereiche, die er dort nicht kennenlernen sollte: Die aristokratischen und industriellen Kreise blieben ihm ebenso verschlossen wie die Welt der Industriearbeiter. Noch weniger fand er den Weg zu den rauschenden Bällen oder in das Milieu der Operette, wo Johann Strauß seine Triumphe feierte. Zu den Dingen, die Steiner jedoch sehr bald zu verfolgen begann, gehörte das politische Leben in Wien. Kurz bevor er nach Wien kam, hatte ein politischer Wettersturz stattgefunden. Die Deutsch-Liberalen, die schon seit dem Wiener Börsenkrach vom Mai 1873 abgewirtschaftet hatten, erlitten im Sommer 1879 eine Wahlniederlage. Der Kaiser ernannte daraufhin am 12. August seinen Jugendfreund Eduard Graf Taaffe zum Ministerpräsidenten. Taaffe stützte sich auf eine Koalition von Polen, Tschechen und konservativen Katholiken, die – so empfand man es – gegen die deutschen Interessen regierte. Steiner verfolgte die sich verschärfenden Spa