Kapitel 1
Paris, Frankreich, Mai 1911
Eva stürmte um genau halb drei Uhr nachmittags um die Hausecke und wirbelte am plätschernden Springbrunnen auf der Place Pigalle vorbei. Sie war unentschuldbar spät dran, also raffte sie den blaukarierten Stoff ihres Kleides und rannte den belebten Boulevard de Clichy entlang, der im Schatten der hochaufragenden roten Windmühle des Moulin Rouge lag. Die Leute drehten sich nach der knabenhaften jungen Frau um – gerötete Wangen, blaue Augen, in ihrer Verzweiflung weit aufgerissen, und kaffeebraunes Haar, das im Wind wehte und sich mit der rubinroten Schleife ihres Strohhutes verhedderte, den sie mit einer Hand fest an den Kopf gedrückt hielt. Ihre knielange Unterhose kam unter dem Kleid zum Vorschein, doch sie scherte sich nicht darum. Eine Chance wie diese würde sie nie wieder bekommen.
Sie lief an zwei glänzenden Pferdekutschen vorbei, die mit einem Automobil um den Platz auf der Straße konkurrierten, und bog dann in die schmale Gasse zwischen einer Kurzwarenhandlung und einer Pâtisserie mit steifer rosa-weißer Markise ein. Ja, das musste die Abkürzung sein, die Sylvette ihr beschrieben hatte, aber das Kopfsteinpflaster verlangsamte ihre Schritte. Zu weit von der Sonne entfernt, um jemals wirklich zu trocknen, waren die grauen Steine moosbedeckt, und sie rutschte mehrmals aus. Dann lief sie durch eine ölige schwarze Pfütze, und ihre Strümpfe und die schwarzen geknöpften Schuhe wurden im letzten Moment vor ihrer Ankunft noch nass gespritzt.
»Sie kommen zu spät!«, donnerte ihr eine Stimme entgegen, als sie mit vor Panik schwirrendem Kopf zum Stehen kam.
Die Garderobiere mittleren Alters, die sich vor ihr aufbaute, eingerahmt vom Bogen der Tür, die hinter die Bühne führte, war von bedrohlicher Größe. Madame Léautaud hatte ihre knochigen Hände in die breiten Hüften gestemmt, die in einem groben schwarzen Samtkleid unter dem fest geschnürten Korsett steckten. Der hohe Spitzenkragen bedeckte ihren Hals vollkommen, und ihre Handgelenke waren unter Spitzenbündchen verborgen. Unter einem schieferfarbenen Haarknoten verzog sich ihr flächiges Gesicht zu einem Ausdruck offener Geringschätzung.
Evas Brust hob und senkte sich hastig vom Rennen, und sie spürte das Brennen in ihren Wangen. Sie hatte den ganzen Weg von Montmartre den Hügel hinunter und über die Place Pigalle zu Fuß zurückgelegt. »Verzeihen Sie, Madame! Wirklich, ich verspreche Ihnen, ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte!«, sprudelte es aus ihr hervor, während sie versuchte, zu Atem zu kommen, da ihr bewusst war, dass sie wie eine Vogelscheuche aussehen musste.
»Alberne Entschuldigungen gelten hier nicht, haben Sie mich verstanden? Die Leute zahlen für eine Vorstellung, und sie erwarten auch, eine zu sehen zu bekommen, Mademoiselle Humbert. Sie dürfen nicht der Grund für eine Verzögerung sein. Sie hinterlassen keinen besonders guten ersten Eindruck, wo es doch direkt vor einer Aufführung so viel zu tun gibt, das kann ich Ihnen sagen!«
In diesem Augenblick kam Evas Mitbewohnerin Sylvette in ihrem grünen Rüschenkostüm und ihren dichten schwarzen Strümpfen heraus in die Gasse gestolpert und trat neben sie. Ihr Gesicht war so stark g