Die Stadt ohne Tod
Baliante schreckte hoch und blickte aufgewühlt durch ihre kleine Kammer. Sie erinnerte sich nicht, was sie so abrupt geweckt hatte – ein Albtraum, ein Geräusch von der Straße. Vielleicht gab es gar keinen Grund; sie schreckte an den meisten Tagen aus unruhigem Schlummer auf.
Noch ein wenig benommen stand sie auf. Die Luft war schwer, stickig und feucht: Baliante erwartete beinahe, den Raum mit Dunst und Nebel gefüllt zu finden. Aber die scharfen Lichtfinger, die durch die schmalen Spalten ihres Fensterladens stießen, enthüllten nur träge dahintreibende Staubflocken. Als Baliante auf das Fenster zutrat, wirbelte der Staub wild umher, leuchtete mitunter golden auf und trudelte dann in die Schatten davon.
Sie löste die Riegel an dem solide gezimmerten Laden und stieß ihn auf. Ein Schwall warmer Luft wogte in den Raum und strich über die bloße Haut an ihren Armen wie eine Berührung. Baliante strich die langen, dunklen Haare nach hinten und blinzelte in die Helligkeit. Sie brauchte einige Augenblicke, um die Straße im gleißenden Licht der Morgensonne erkennen zu können.
Baliante lebte im zweiten Geschoss, und ihre Tür ging hinaus auf das flache Dach des unteren Stockwerks. Von diesem Dach aus führte eine Treppe zur Straße hinab. Der untere Teil des Hauses war versiegelt, doch Baliantes Raum saß wie ein Würfel oben auf dem Bauwerk, ohne Verbindung zur Wohnung darunter. Es war bereits zu Lebzeiten der Besitzer untervermietet gewesen, und so war es auch nach deren Tod geblieben. Nur dass nun die Nachlassverwalter den Mietzins kassierten.
Unten auf der Straße humpelte eine hoch gewachsene und breit gebaute Gestalt entlang, die durch den gebeugten Rücken und den eingezogenen Kopf weitaus kleiner wirkte, als sie in Wirklichkeit war. Baliante seufzte. Sie kannte den Mann. »Chrys! Hallo, hier bin ich!«, rief sie herab.
Der junge Mann reckte sich, blickte suchend umher und schließlich zu dem Fenster empor, hinter dem Baliante stand. Ein Lächeln erschien auf seinem verhärmten Gesicht und er humpelte einige Schritte näher. Er mochte ungefähr zwanzig Jahre alt sein, und obwohl er von hünenhafter Statur war und die Natur ihn mit einem Übermaß Muskeln gesegnet hatte, wirkte er alles andere als gesund: hohlwangig, mit Schatten unter den Augen und entzündeten Schnitten an Füßen und Beinen. Nicht einmal die sonnengebräunte Haut konnte verbergen, dass seine Gesichtsfarbe von Tag zu Tag fahler wurde. Wie seine bunte Tunika verriet, hatte er schon mal bessere Tage erlebt, inzwischen aber war das Kleidungsstück zerschlissen und schmierig.
Chrysonias war geistig zurückgeblieben, hatte das Gemüt und den Verstand eines kleinen Kindes. Vor kurzem hatte er rasch hintereinander Vater und Mutter verloren und stand seither allein und mittellos in der Welt. Baliante sah ihn häufig durch die einsamen Straßen des Viertels streifen. Er war unfähig zu begreifen, was mit ihm geschah, unfähig, für sich zu sorgen. Auch wenn er den Körper eines Riesen hatte, so fehlte ihm doch die notwendige Stärke, um im Schmutz und Unrat der Gosse zu überleben. Jetzt stand er unter Baliantes Fenster und blickte zu der Frau hinauf: »Hallo Baliante!«
»Ich habe hier etwas für dich«, meinte sie und erwiderte das Lächeln. Dann warf sie dem Mann die Reste eines Maisfladen