Gabriel OrozcoHorses Running Endlessly1995
Ich glaube nicht an die Kunst. Ich glaube an den Künstler.
Marcel Duchamp
Künstler machen nicht nur Kunst. Sie schaffen und bewahren Mythen, die ihrem Werk Gewicht verleihen. Während sich die Maler des19. Jahrhunderts mit dem Problem der Glaubwürdigkeit konfrontiert sahen, machte Marcel Duchamp, der Ahnherr der zeitgenössischen Kunst, den Glaubensakt zu einem zentralen künstlerischen Thema.1917 erklärte er ein auf den Kopf gestelltes Urinal zum Kunstwerk und gab ihm den TitelFountain. Damit reklamierte er für den Künstler die gottgleiche Macht, zur Kunst zu erklären, was immer er will. So schwer es ist, sich diese Autorität zu bewahren, so grundlegend ist sie heute für den Erfolg eines Künstlers. Wenn alles Kunst sein kann, gibt es keinen objektiven Maßstab für Qualität, und daher muss ein ambitionierter Künstler seine eigenen Qualitätsmaßstäbe definieren. Er benötigt dafür allerdings nicht nur ein immenses Selbstvertrauen, sondern auch Überzeugungskraft. Heutige Künstler sind wie konkurrierende Gottheiten, die sich durch die Art und Weise ihres Auftretens eine treue Anhängerschaft sichern.
Paradoxerweise ist Kunst eine handwerkliche Tätigkeit. Als Duchamp das Handgemachte zugunsten des Vorgefertigten, des »Readymade«, verwarf, begann er nicht nur Identitäten, sondern auch Ideen zu gestalten. In etlichen seiner Arbeiten spielte er mit seiner sozialen Rolle und präsentierte sich in Frauenkleidern als Rrose Sélavy oder auch als Schwindler und Hochstapler. Nicht nur die Größe und der Aufbau eines Werks, sondern auch das, was ein Künstler tut oder sagt, muss überzeugen – nicht nur andere, sondern auch den Künstler selbst. Ob er sich nun als schillernde, imposante oder als eher bescheidene, zurückhaltende Persönlichkeit präsentiert: glaubwürdige Künstler sind immer Hauptdarsteller, niemals Nebenfiguren oder Verkörperungen stereotyper Charaktere. Daher betrachte ich das Künstleratelier als eine private Bühne für die tägliche Erprobung des Glaubens an sich selbst. Dies ist einer der Gründe, warum ich33 Künstler in drei »Akte« unterteilt habe.
Das Buch geht der Frage nach, was es heißt, heute ein professioneller Künstler zu sein, und untersucht die Art und Weise, wie Künstler in der Welt agieren und sich selbst darstellen. Im Laufe von vier Jahren und mehreren hunderttausend Flugmeilen habe ich hundertdreißig Künstler interviewt. Einige berühmte und viele reflektierte, interessante Künstler wurden bei der Endmontage herausgenommen. Und meine Kriterien entsprachen in vielerlei Hinsicht tatsächlich denen eines Kurators oder auch eines Casting-Direktors. Mit anderen Worten: Das Werk des Künstlers musste bedeutsam sein, aber auch seine Persönlichkeit musste Faszinationskraft besitzen. Gelegentlich hatten die Interviews etwas von einem Vorsprechen für eine Filmrolle. Einem bekannten Fotografen zum Beispiel, der stets Wert darauf legte, als Künstler zu gelten, stellte ich die Kernfrage, die mich bei allen meinen Recherchen geleitet hat: »Was ist ein Künstler?« Er antwortete: »Ein Künstler macht Kunst.« Ich hätte am liebsten gerufen: »Der Nächste bitte!«, um einen neuen Bewerber aus der langen Reihe der wartenden Künstler-Persönlichkeiten hereinzubitten. Seine tautologische Argumentation war nicht zielführend. Sie demonstrierte vielmehr, dass die Kunstwelt, obwohl augenscheinlich ganz auf Dialog ausgerichtet, heiklen Fragen gern ausweicht und sich in ein Verwirrspiel flüchtet, wenn es opportun erscheint.
33