: Ruth Schweikert
: Wie wir älter werden Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104032764
: 1
: CHF 10.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein bewegender Zeit- und Familienroman Wie spät ist es? Draußen liegt Schnee. Drinnen bereitet der 87-jährige Jacques wie jeden Morgen das Mittagessen für sich und seine Frau Friederike vor. Neun Jahre lang lebte er zwischendurch mit Helena zusammen, seiner Jugendliebe; dann kehrte er in seine Ehe zurück. Jacques und Friederike, Helena und ihr Mann Emil sind untrennbar miteinander verbunden durch den Pakt des Schweigens, den sie vor langer Zeit miteinander geschlossen haben. Dieser Pakt prägt das Leben der Kinder und Enkel. Doch irgendwann beginnt er brüchig zu werden ... In wechselnden Perspektiven umkreist ?Wie wir älter werden? die Geschichten mehrerer Generationen, die vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Ein großer Roman über Liebe und Verrat und die Frage, wie unser Blick sich im Lauf des Lebens verändert.

Ruth Schweikert wurde 1965 in Lörrach geboren und ist in der Schweiz aufgewachsen. 1994 debütierte sie mit dem vielbeachteten Erzählungsband »Erdnüsse. Totschlagen«. Es folgten die Romane »Augen zu« (1998), »Ohio« (2005) und »Wie wir älter werden« (2015). 2019 erschien die literarische Recherche »Tage wie Hunde«, in der sich Ruth Schweikert mit ihrer eigenen Brustkrebserkrankung auseinandersetzte. Für ihre Arbeit wurde sie u.a. beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Bertelsmann-Stipendium (1994), mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1999), als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim (2015), mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich (2016) und dem Solothurner Literaturpreis (2016) ausgezeichnet. Ruth Schweikert starb am 4. Juni 2023 in Zürich.

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Friederike saß, wie fast immer in letzter Zeit, mit dem Rücken zum großen Wohnzimmerfenster, das auf den Balkon ging; ihre schmal gewordene Gestalt beinahe reglos, dabei erstaunlich aufrecht; die Beine hatte sie waagrecht ausgestreckt und die Füße, in dicke braune Wollsocken verpackt, auf einen zweiten Stuhl gebettet, so dass Ober- und Unterkörper einen rechten Winkel bildeten; wie die Zeiger einer Uhr, dachte Jacques einmal mehr, die stehengeblieben war auf Viertel nach zwölf. Das Bild hatte sich festgesetzt in seinem Kopf; ausgerechnet Kathrin hatte ihn darauf gebracht bei ihrem überraschenden Besuch in Saanau Ende November – eine knappe Stunde nur war sie da gewesen, auf der Durchreise von Zürich nach Genf, wo sie fürs Radio über irgendeine Ausstellungseröffnung berichtete; ihr strenges Gesicht blass und angespannt unter den aschblonden Locken, der dunkelblaue Satinstoff ihres Hosenanzugs zunehmend dichter gesprenkelt mit winzigen Hautfetzen, die sie sich ununterbrochen von den Fingern pulte; als hätte Friederike die ihr zugemessene Frist gleichsam unbemerkt überschritten, hatte Kathrin angefügt und ihre Mutter kaum aus den Augen gelassen, als könne sie die Wandlung nicht fassen, die allerdings, dachte Jacques, weniger Friederike vollzogen hatte als vielmehr Kathrin selbst, ihre rätselhafte Tochter, die seither jeden zweiten Tag anrief; einfach so, ohne besonderen Anlass, nur um nachzufragen, ob und wie sie zurechtkamen.

Es war der30. Dezember2013. Auf dem Couchtisch stand noch das grasgrüne Plastikbäumchen, das Jacques kurz entschlossen anstelle der Nordmanntanne besorgt hatte, für25 Franken samt integrierter wechselfarbigerLED-Beleuchtung, die sie jeweils nach der Tagesschau für eine Viertelstunde anmachten. Jacques löschte die Deckenlampe, setzte sich neben Friederike auf das Sofa und stimmte eines der Weihnachtslieder an, die er halbwegs auswendig konnte; Es ist ein Ros entsprungen, O Tannenbaum oder O du fröhliche, laut und deutlich, damit sie es sicher hörte. Wenn sie e-inen guten Tag hatte, fiel Friederike ein, und sie sangen zweimal die erste Strophe, bevor sie sich auf den Weg machten ins Bad; Jacques hielt ihren rechten Arm, und mit der linken Hand stützte Friederike sich an der Zimmerwand ab, den Blick fest auf den Parkettboden gerichtet, damit ihr nicht schwindlig wurde.

Nur noch selten bat sie ihn, eine Bachkantate aufzulegen oder die große Messe in c-moll von Mozart, die sie zuletzt im Kirchenchor gesungen hatten, bevor sie beide austraten, weil es einfach keinen Sinn mehr machte; das war an Weihnachten vor drei Jahren gewesen. Friederike wollte nicht darauf warten, bis der Chorleiter ihr sagte, was sie genau wusste, dass ihr kräftiger, heller Sopran – sogar die Königin der Nacht hatte sie beherrscht – brüchig geworden war und die Töne ihr um Nuancen zu tief gerieten oder zu hoch. Jacques hielt sich selber für komplett unmusikalisch; er hatte nur Friederike zuliebe und, nach Absprache mit dem Chorleiter, nur die einfachsten Passagen mitgesungen, dankbar, dass es etwas gab, womit er ihr eine Freude machen konnte.

Zweiundzwanzig nach zehn; Jacques sprach halblaut vor sich hin und warf einen Blick auf das kompakte kleine Gerät auf der Küchenablage, das Johannes, der ältere der beiden Söhne, ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte; ein Hochleistungsweltempfänger mit integriertem Wecker:10:22, er hatte genau richtig geschätzt, er war im Plan. Wie jeden Montagmorgen hatte er sämtliche Vorräte überprüft; Lauch und Wirz mussten verwertet werden, ein Stück Appenzellerkäse war schimmlig geworden unter der Plastikfolie; er hatte Schimmel und Rinde entfernt und den Rest mit wenigen Bissen vertilgt, obwohl sie eben erst gefrühstückt hatten; was wegmusste, musste weg; essen konnte er immer, ein Reflex, der ihm geblieben war aus seinen Kindertagen.

Es war angenehm warm in der Wohnung; allzu warm, wie ihre längst erw