Einleitung
Die Baumwollpflanze – die Art Gossypium hirsutumaus Zentralamerika ist inzwischen weltweit verbreitet
Ende Januar 1860 versammelten sich die Mitglieder der Handelskammer von Manchester im Rathaus zu ihrer Jahrestagung. Unter den 68 Unternehmern, die dort zusammenkamen, waren vor allem Baumwollkaufleute und Baumwollfabrikanten. In den vorangegangenen 80 Jahren hatten Männer wie sie Manchester zur bedeutendsten Industriestadt der Welt gemacht und zum Knotenpunkt eines globalen Netzwerks der Landwirtschaft, des Handels und der Industrie. Diese Kaufleute erwarben Rohbaumwolle aus den verschiedensten Anbauregionen und belieferten damit die Fabriken in der Umgebung von Manchester, in denen sich mittlerweile zwei Drittel aller weltweit betriebenen Baumwollspindeln drehten. Ein riesiges Heer von Arbeitern war damit beschäftigt, diese Baumwolle zu Garn zu spinnen und zu Stoffen zu weben, die dann von Händlern auf den Weltmärkten veräußert wurden.
Die versammelten Herren waren in Feierstimmung. Ihr Präsident Edmund Potter hob in seiner Ansprache das «beeindruckende Wachstum» ihrer Industrie und «den allgemeinen Wohlstand des ganzen Landes und ganz besonders dieser Region» hervor. Baumwollspinnereibesitzer John Cheetham pries den «ganz beträchtlichen Aufschwung, der sich in verschiedenen Fabriken bemerkbar macht», und schrieb diesen Erfolg größtenteils dem immensen Wachstum der asiatischen Märkte zu. Sein Publikum pflichtete ihm mit Zwischenrufen bei, als er fortfuhr, er rechne bald schon mit einer weiteren Expansion dieser Märkte, da die «Weber in Indien ihre schlecht bezahlten Tätigkeiten in diesem Handwerk aufgeben werden, um wieder der Beschäftigung nachzugehen, die wir ihnen nahelegen, nämlich der Landwirtschaft».[1]
Diese Baumwollfabrikanten und -kaufleute waren nicht ohne Grund so selbstgefällig: Sie standen im Zentrum eines weltumspannenden Imperiums – nicht des Britischen Empire, sondern des Imperiums der Baumwolle. Sie herrschten über Fabriken, in denen zehntausende von Arbeitern riesige Spinnmaschinen und lärmende mechanische Webstühle bedienten. Sie kauften Baumwolle von den amerikanischen Sklavenplantagen und verkauften ihre Fabrikerzeugnisse auf den Märkten in den entlegensten Winkeln der Erde. Indessen waren ihre eigenen Angelegenheiten – die Produktion und der Verkauf von Baumwollgarn und -stoff – nahezu banal. Sie waren die Besitzer von lauten, schmutzigen, überfüllten Fabriken; sie lebten in Städten, die schwarz waren vom Ruß der kohlebetriebenen Dampfmaschinen, und atmeten den Gestank von menschlichem Schweiß und Abfall. Sie beherrschten ein Imperium, wirkten aber kaum wie Herrscher.
Hundert Jahre zuvor deutete wenig auf diese neue Welt hin, die da entstanden war. Natürlich wussten einige Europäer von feinen indischen Musselinen, Chintzen und Kattunen, die von den Franzosenindiennes genannt wurden und in den Häfen von London, Barcelona, Le Havre, Hamburg und Triest ankamen. Frauen und Männer in den ländlichen Gegenden Europas spannen und webten in Heimarbeit geringe Mengen Baumwolle, konnten jedoch mit den prachtvollen Stoffen des Ostens kaum konkurrieren. In Süd- und Mittelamerika, in der Karibik, in Afrika und besonders in Asien säten die Menschen Baumwolle auf ihren Süßkartoffel-, Mais- und Hirsefeldern. Sie spannen die Faser und webten aus ihr die Stoffe, die ihre Familien benötigten oder die ihre Herrscher einforderten. Seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden stellten diese Menschen in diesen Teilen der Welt Baumwollgewebe her und bedruckten sie. Einige dieser Textilien wurden weltweit gehandelt; manche waren so außergewöhnlich fein, dass sie als «gewobener Lufthauch» bezeichnet wurden.
Anstelle von Frauen, die auf niedrigen Hockern in ihren Hütten saßen, an kleinen hölzernen Rädern spannen oder Spinnrocken und Spinnschalen bewegten, tanzten um 1860 nun Millionen mechanischer, dampfbetriebener Spindeln – von Lohnarbeitern, auch Kindern, betrieben – täglich 14 Stunden auf und ab und produzierten Millionen Pfund Garn. Anstelle von Familien, die Baumwolle anbauten und diese in ihren Haushalten zu Garn und handgewobenen Stoffen verarbeiteten, schufteten Millionen von Sklaven auf Plantagen in den Amerikas, tausende von Kilometern entfernt von den gierigen Fabriken, die sie belieferten, und diese Fabriken lagen wiederum tausende von Kilometern weit weg von den Verbrauchern, die ihre Textilien kaufen sollten. Anstelle von Karawanen, die westafrikanische Stoffe auf Kamelen durch die Sahara transportierten, überquerten Dampfschiffe die Weltmeere, bis zum Rand gefüllt mit Baumwolle aus den USA oder mit britischen Stoffen.
Niemand ahnte freilich im Jahr 1860, wie radikal sich die Welt der Baumwolle im folgenden Jahrhundert ein weiteres Mal verändern sollte. Um 1960 kamen Rohbaumwolle und die aus ihr gefertigten Garne und Stoffe wieder größtenteils aus Asien: aus China, der Sowjetunion und Indien. In Großbritannien, im restlichen Europa und in Neuengland blieben nur wenige Baumwollfabriken bestehen. In den ehemaligen Zentren der Baumwollverarbeitung – darunter Manchester, Mulhouse im Elsass, Barmen an der Wupper und Lowell in Massachuse