: Wilhelm Grimm, Jacob Grimm
: Grimms Märchen
: Insel Verlag
: 9783458753803
: 1
: CHF 11.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 275
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Tragen wir einen Dank davon für alle Mühe und Sorge, der uns selbst zu überdauern vermag, so ist es der für die Sammlung der Märchen«, so hat 1860 Jacob Grimm seines verstorbenen Bruders gedacht. Den Märchen verdanken die Grimms ihren Ruhm - dem meistaufgelegten weitestverbreiteten und bestbekannten deutschsprachigen Buch aller Zeiten. Indem sie auf der Suche waren nach dem echten und alten Volksmärchen, indem sie diesem sich, mit jedem Schritt ihrer Arbeit, zu nähern glaubten, schufen sie doch etwas anderes: eine ganz neue literarische Gattung, das Grimmsche Buchmärchen mit seinem kanonbildenden Repertoire und dem unverwechselbaren, fortan vorbildlichen Ton.

<p>Wilhelm Grimm, geboren 1786 in Hanau und verstorben 1859 in Berlin, war ein deutscher Jurist sowie Sprach- und Literaturwissenschaftler. Sein schriftstellerisches Lebenswerk ist eng mit dem seines ein Jahrälteren Bruders Jacob Grimm verknüpft. Gemeinsam arbeiteten sie an einem großen Projekt: einem deutschen Wörterbuch, das den gesamten neuhochdeutschen Sprachschatz darlegen sollte.</p>

2.
Marienkind


Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens gieng der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm, »ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins; du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, und seine Mutter sein und für es sorgen«. Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da gieng es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm. Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach »liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Thüren des Himmelreichs in Verwahrung: zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hüte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich«. Das Mädchen versprach gehorsam zu sein, und als nun die Jungfrau Maria weg war, fieng es an und besah die Wohnungen des Himmelreichs: jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel, und war von Licht und Glanz umgeben. Es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit, und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm. Nun war allein noch die verbotene Thür übrig, da empfand es eine große Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach zu den Englein »ganz aufmachen will ich sie nicht, aber ich will sie aufschließen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen«. »Ach nein«, sagten die Englein, »das wäre Sünde: die Jungfrau Maria hats verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden.« Da schwieg es still, aber die Lust und Neugier in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte und pickte ordentlich daran, und ließ ihm keine Ruhe. Und als die Englein einmal hinausgegangen waren, dachte es »nun bin ich ganz allein und könnte einmal hinein gucken, es weiß es ja niemand, wenn ich es thue«. Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch in das Schloß, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang die Thüre auf, und es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen und betrachtete alles mit Erstaunen, dann rührte es ein klein wenig mit dem Finger an den Glanz, da ward der Finger ganz golden. Da empfand es eine gewaltige Angst, schlug die Thür heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder weichen, es mochte anfangen, was es wollte, und das Herz klopfte in einem fort und wollte nicht ruhig werden; auch das Gold blieb an dem Finger und gieng nicht ab, es mochte waschen und reiben, so viel es wollte.

Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise zurück. Sie rief das Mädchen zu sich und forderte ihm die H