Zweites Kapitel.
Eine lange Reihe von Jahren war dahingegangen. Das Kind Hedwig war eine Frau geworden. Mit einem empfänglichen Gemüt für Freud' und Leid begabt, hatte sie beides in all den Jahren reichlich erfahren, so reichlich, daß ihr war, sie habe schon viel länger gelebt als ihre Altersgenossen, mit denen sie verkehrte.
Seit jener Zeit, da sie um ihren Vogel geweint, hatte sie noch anderes zu Grabe tragen müssen, das ihr noch mehr am Herzen gelegen als das Tierchen, das draußen unter der Vogelesche lag. Es stand kein Monument auf jener Stelle. Wochen und Monate lang hatte vor Zeiten Hedwig nach ihrem Freunde ausgeschaut, ob er nicht den Weg herauf komme und hinter ihm her ein wundervolles Monument auf einem ungeheuren Wagen. Aber er kam nie. Die Apfelbäume hatten ihre Früchte gebracht, der weiße Schnee war darauf gefallen, sie hatten wieder geblüht und hatten wieder entblättert dagestanden. Und immer wieder, durch die vollen und die leeren Zweige hatte Hedwig nach den Pferden ausgeschaut, die dort unten erscheinen sollten: aber sie kamen nicht.
Der Besuch der Baronin v. K. in Hedwigs Familie war durch die gemeinsamen Freunde herbeigeführt worden; dabei blieben die Beziehungen stehen und hatten keine weitere Berührung zwischen den beiden Familien zur Folge. Dafür hatte Hedwig kein Verständnis. Der junge K. war ihr Freund geworden, er mußte wiederkommen, wie er versprochen hatte. Lange freute sie sich auf seine Wiederkehr; dann grämte sie sich, daß er immer nicht kam; dann vergaß sie Gram und Freude über neuem Gras und neuen Blumen, die darüber wuchsen und abfielen, und so wurden Jahre daraus, und ein gutes Stück vom Leben lag schon hinter ihr.
Eben war Hedwig aus einer Krankheit erstanden, die sie den ganzen heißen Sommer lang in die Stille des Zimmers gebannt hatte. Schon röteten sich die Blätter im Walde, und die Morgen- und Abendnebel zogen um die heimatlichen Fluren der Genesenden, als ihr der Arzt verordnete, die Herbstwochen in einer sonnigeren Luft zuzubringen, im milden Rhonetal, wo, von Bergen rings umschlossen, ein grünes Plätzchen Erde liegt, geschützt vor allen Winden, geschmückt mit Weinlaub und Kastanienwald bis an den Fuß der grauen Felshörner hinan, deren Schneegipfel hoch ins Himmelblau ragen.
Hedwig war in dem ihr empfohlenen Pensionshause angekommen. Diejenigen ihrer Bekannten, die von dem Orte wußten, hatten ihr das Haus als eine der kleineren Pensionen geschildert, die reichlich an den Ufern des sonnigen Leman bis weit hinauf ins Rhonetal ausgesäet sind. So hoffte Hedwig mit wenigen Personen sich da zusammenzufinden, sie traf aber gegen sechzig Gäste an. Im ersten Augenblick war ihr sehr unbehaglich dabei zu Mute; aber bald besann sie sich und fand, daß der einzelne in der Schar sich eher verlieren könne als unter wenigen, und diese Aussicht war ihr lieb, denn ihr Wunsch war, für sich zu bleiben, in der Stille das schöne Land zu durchstreifen und alle lieblichen Wege zu entdecken, die durch diese Wälder und Gründe und über die grünen Hügel hin führen mußten. Hier, wo keiner nach ihr fragte, konnte sie auch so ungestört ihrem Hang zum Sinnen und Träumen folgen. Hedwig hatte von einer Bekannten einen Gruß mitgebracht an eine Frau v. L., die sich im Pensionshause befinden mußte. Es war eine freundliche Fürsorge der Bekannten für Hedwig, daß