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VERZAGT UND NACKT IN LONDON
Die Musik war laut. Der Club lag fast völlig im Dunkeln. Sie hatte einen trockenen Hals und brauchte noch einen Drink.
Auf dem Weg zum Tresen wurde sie von den kreuz und quer über den Boden zuckenden Lichteffekten abgelenkt.
Ein vertrautes Gesicht. Eine Hand auf der Taille einer Frau. Ein sich küssendes Paar.
Das Licht reichte aus, um die beiden zu erkennen.
Olen. Und Simone.
Giselle war den Tränen nahe. Sie rannte über die rutschigen Steinplatten auf den Kanal zu und überquerte vorsichtig die schmale Holzbrücke der Schleuse. Es war stockdunkel, in der Ferne grollte rasch näher kommender Donner.
Der Regen setzte ein, als sie das Kopfsteinpflaster auf dem linken Kai erreichte. Sie war schon öfter in Camden Market gewesen, aber nur tagsüber, wenn es hier laut und geschäftig zuging. Nachts wirkte alles trostlos und unheimlich, wie die Filmkulisse einer Geisterstadt.
Das Herz war ihr schwer, sie hatte einen Knoten im Magen. Der ganze Körper tat ihr weh, als laste ein schreckliches Gewicht auf ihr. Ein Schmerz, so tief, als würde ihre Seele in Stücke gerissen.
Der Boden war glitschig, und sie ging langsamer.
Am liebsten wäre sie jetzt irgendwo anders gewesen, nur nicht in London. Wieder zu Hause in Paris oder ein flüchtiger Gedanke huschte ihr durch den Kopf in Orléans, wobei sie ihre Geburtsstadt kaum kannte und sich nur auf fragwürdige Kindheitserinnerungen an idyllischere Zeiten verließ. Oder vielleicht konnte sie noch ein bisschen abwegiger nach Amerika in das New Orleans ihrer Fantasie entfliehen? Einen Ort, an dem sie nie gewesen war, der aber in ihrer weltfremden Vorstellung vor Leben und Voodoo-Zauber nur so sprudelte. Wie in den Vampir-Romanen von Anne Rice, die sie so gern las. Während sich dieser unlogische Gedanke Bahn brach, wurde ihr auch bewusst, dass ihr die Stadt am Mississippi schon lange nicht mehr in den Sinn gekommen war. Wieso ausgerechnet jetzt?
»Giselle!«
Sie drehte sich um.
»Bitte, können wir reden?«
Olen.
Ihr erster Impuls war, einfach wegzulaufen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie wartete, bis er sie eingeholt hatte, blieb am Kanalufer stehen, wo der flache Anstieg zur Camden High Street begann, auf der sie einen Bus erwischen wollte, um dem Gewitter zu entfliehen. Das nasse Haar klebte ihr bereits an Gesicht und Kragen.
Olen wirkte zerzauster denn je in dem nassen weißen T-Shirt und der engen Jeans und mit den schwarzen Locken, die platt gedrückt waren vom nun strömenden Regen. Seine ganze Selbstsicherheit schien fortgespült, und er machte eine wirklich traurige Figur.
Er erreichte sie.
»Danke, dass du gewartet hast.«
Plötzlich wurde Giselle wütend und wollte ihn dafür bestrafen, sie so öffentlich gedemütigt zu haben. Doch sie schwieg, wischte sich die verräterischen Tränen und die Regentropfen von den Wangen.
Er sah sie mit flehendem Blick an, wollte sie wohl schweigend um Verzeihung bi