I. Geographie und geschichtlicher Überblick
Jordanien in seinen heutigen Grenzen; das als Westjordanland beschriftete Gebiet wurde 1948 von Jordanien erobert, 1967 von Israel besetzt; 1988 verzichtete Jordanien zugunsten eines zukünftigen Palästinenserstaates
Das Staatsgebiet des heutigen Jordanien besteht zu mehr als drei Vierteln aus Wüste. Nur der westlichste Teil des Landes ist fruchtbares Kulturland auf einer Fläche von ungefähr 15 000 km2 (vergleichbar mit Schleswig-Holstein oder Thüringen). Dieser zumeist nur 30 Kilometer schmale, aber 300 Kilometer sich fast über die gesamte Nord-Süd-Ausdehnung von Jordanien erstreckende Kulturlandstreifen ist es, der uns in diesem Band alsbiblische Landschaft interessiert: dasOstjordanland.
Auf die Geschichte der letzten 4 000 Jahre gesehen ist es nicht zwingend, das Ostjordanland getrennt von den westlich des Jordan und des Toten Meeres angrenzenden Gebieten zu behandeln, die heute das Staatsgebiet von Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete bilden. Ihrer Bevölkerung und ihrer politischen Situation nach haben das Ost- und das Westjordanland zumeist eng zusammengehört. Wo vonPalästina die Rede ist, im Sinne der Bezeichnung einer Landschaft und eines Kulturraums, versteht man darunter oft das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und dem Rand der Wüste, also einschließlich des Ostjordanlandes, das dann ungefähr das östliche Drittel von Palästina bildet.
In politischer Hinsicht ist es erst das Ergebnis von Entwicklungen des 20. Jh., dass wir es heute mit Staatsgrenzen zu tun haben, die es geraten sein lassen, das Ostjordanland getrennt vom Westjordanland zu besuchen. Vorbereitet wurde dies durch die Abtrennung des Emirats Transjordanien vom britischen Mandatsgebiet Palästina 1921, weiter festgeschrieben durch das Ergebnis des Sechs-Tage-Krieges 1967 und durch den Verzicht Jordaniens auf Gebietsansprüche westlich des Jordan im Jahr 1988.
Vor dem 20. Jh. dagegen gab es kaum eine politische Grenze entlang des Jordan, und die klassische arabische Geographie zieht ihre Grenzen eher quer dazu und benutzt dann verschiedene Begriffe für einen nördlichen, einen mittleren und einen südlichen Teil Palästinas.
Wenn man die Landschaftsformationen desgeographischen Raums Palästina betrachtet, stößt man allerdings erneut auf Gesichtspunkte, die durchaus eine Unterteilung in mehrere schmale, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Landschaftsstreifen sinnvoll erscheinen lassen: Man kann in dieser Landschaft teilweise 200 Kilometer und mehr in Nord-Süd-Richtung reisen, ohne dass sich das Landschaftsbild dramatisch verändert. Bei Reisen in Ost-West-Richtung aber sind immer spätestens nach zehn Kilometern deutliche Veränderungen wahrzunehmen.
Der Grund dafür ist, dass zwischen dem West- und dem Ostjordanland eineplattentektonische Bruchlinie verläuft, wo sich die Landmassen auseinander bewegen und einen tiefen Graben hinterlassen. Geophysikalisch betrachtet gehören West- und Ostjordanland also gerade nicht zusammen!
Wenn man vom Mittelmeer aus nach Osten reist, durchquert man zunächst eine Küstenebene. Dann ist im Herzen des Westjordanlandes ein Gebirgszug zu überqueren, dessen Kammhöhe 700 bis 1 000 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Danach fällt die Landschaft steil ab und erreicht im Jordangraben und am Toten Meer die tiefste Senke der gesamten Erdoberfläche mit bis zu 396 Metern unter dem Meeresspiegel. Östlich des Jordan ist erneut ein Gebirgszug zu erklimmen, der Höhen von über 1 000 Metern aufweist. Damit ist ein Hochplateau betreten, dessen zum Jordangraben hin gelegener Rand noch relativ fruchtbar ist, das dann aber sehr rasch in das Wüstengebiet übergeht, das sich von hier aus über die gesamte arabische Halbinsel erstreckt.
In dieses geographische Schema der Landschaftsformationen eingetragen liegen die biblischen oder im Zusammenhang mit der Bibel interessierenden Stätten Jordaniens entweder unten im Jordangraben auf der Ostseite des Jordan bzw. des Toten Meers (und damit unter dem Meeresspiegel), oder sie reihen sich teilweise über 1 000 Meter höher am fruchtbaren Rand des ostjordanischen Hochplateaus auf.
Die Landschaft Palästina insgesamt gehört zu den Kulturräumen der Erde, in denen dieGeschichte der menschlichen Sesshaftwerdung zusammen mit dem Übergang zu einer bäuerlichen Kultur am frühesten vorangeschritten ist. In Jericho, knapp außerhalb von Jordanien an der Grenze zwischen Ost- und Westjordanland gelegen, lässt sich eine durchgehende Besiedelung von etwa 10 000 v. Chr. bis in biblische Zeit nachweisen, beginnend mit einem Heiligtum und einfachen Lehmhütten. Um 8 000–6 000 v. Chr. (man nennt dieses Zeitalter dievorkeramische Jungsteinzeit) war Jericho bereits eine Stadt mit Stadtmauer, Turm und schätzungsweise 3 500 Einwohnern.
Reliefquerschnitt durch Palästina auf der Höhe von Jerusalem
Jericho führte eine Entwicklung an, der im Umfeld einschließlich des Ostjordanlandes weitere Beispiele von Siedlungen folgten, während die Mehrzahl der Menschen dieser Zeit nichtsesshafte Hirten, Jäger und Sammler blieben. Die damals entstandene Spannung zwischen Bauern- und Hirtenkultur spiegelt sich noch in der biblischen Erzählung von dem Bauern Kain und dem Hirten Abel wider (Genesis 4).
Jungsteinzeitlicher Turm in Jericho
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