: Franz Ruppert
: Frühes Trauma (Leben Lernen, Bd. 270) Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensjahre
: Klett-Cotta
: 9783608107517
: Leben Lernen
: 3
: CHF 31.70
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 322
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Bereits durch vorgeburtliche Einflüsse oder Ereignisse rund um die Geburt und unmittelbar danach kann die Seele Schaden nehmen: so z.B. durch Abtreibungsversuche, Tod eines Zwillings im Mutterleib, schwierige Geburt, Operationen im Säuglingsalter oder eine Wochenbettdepression der Mutter. Diese und viele andere Störungen der frühren Lebenszeit sind der Erinnerung normalerweise nicht zugänglich. Durch das von Franz Ruppert entwickelte Verfahren 'Aufstellen des Anliegens' können auch früheste Traumata rekonstruiert und damit auflösbar werden. In 16 Autoren-Beiträgen, die jeweils ein Thema aus dem prä-, peri- und postnatalen Bereich praxisnah darstellen, erschließt sich die ganze Bandbreite der frühesten Entwicklungsrisiken und auch ihre Heilungschancen. In einem ausführlichen Einleitungs- und Schlusskapitel führt Franz Ruppert in die Methode ein und gibt eine Zusammenschau des Anwendungsfeldes. »Es bleibt ein Verdienst von Franz Ruppert, einen Baustein zur Aufklärung über vielfältige Leiden von Menschen mit chronisch-frühkindlicher Traumatisierung beigetragen zu haben.« Margret Dörr, socialnet.de

Franz Ruppert, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist Professor an der Katholischen Stiftungshochschule München und in eigener Praxis tätig. Seit 1994 führt er in Deutschland und im europäischen Ausland Workshops durch zu der von ihm entwickelten Methode »Aufstellung des Anliegens«. Er ist spezialisiert auf die psychotherapeutische Arbeit mit schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ängsten, Borderline-Persönlichkeitsstö ungen, Psychosen und Schizophrenien. Dazu kommen zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Symbiosetrauma und Aufstellungsarbeit Weitere Informationen, Bücher und Arbeitsfelder zu Franz Ruppert: www.franz-ruppert.de »Es bleibt ein Verdienst von Franz Ruppert, einen Baustein zur Aufklärung über vielfältige Leiden von Menschen mit chronisch-frühkindlicher Traumatisierung beigetragen zu haben.« Margret Dörr, socialnet.de

1. Frühe Traumatisierungen und das»Aufstellen des Anliegens«


Franz Ruppert

Den Lebensmotor in Gang setzen

Manfred1 kommt zu seiner dritten Aufstellung2. In den vorangegangenen beiden Aufstellungen hatte er sich mit einer Herzsymptomatik auseinandergesetzt, die ihn schon lange quält undängstigt. Er hat mitunter hohe Blutdruckspitzen und Herzrasen. Er ist vierzig Jahre alt und das einzige Kind seiner Eltern. Seinen Vater hat er erst vor zwei Jahren kennengelernt, da sich seinen Eltern trennten, als seine Mutter mit ihm schwanger war. Er wuchs in der Familie seiner Mutter auf, die seinen Vater als»unpassend für ihre Tochter« abgelehnt hatte. Bei seiner ersten Aufstellung wählte er in einer größeren Gruppe eine Frau als Stellvertreterin für sein Anliegen. Auf diese Weise wurde seine symbiotische Verstrickung mit seiner Mutter deutlich sichtbar. Er konnte innerlich noch nicht deutlich zwischen sich und ihr unterscheiden. Auch bei seiner zweiten Aufstellung wählte er erneut eine Frau als Stellvertreterin für sein Anliegen. Diesmal wurde für ihn klar erkennbar, wie wenig seine Mutter für ihn da gewesen und auch nicht bereit war, Mutter für ihn zu sein. Bei seinem dritten Termin ist außer mir noch eine Hospitantin anwesend. Sein Anliegen ist es herauszufinden, warum er so oft kalte Hände und Füße hat und was er daranändern könnte. Bei einem vor Kurzem durchgeführten Belastungs-EKG auf dem Fahrradergometer stellte sich heraus, dass seine Hände paradoxerweise umso kälter wurden, je mehr er sich anstrengte. Seine Vermutung dazu ist, dass dies mit einer Ohnmachtsituation zu tun haben könnte. Auf meine Frage, an welche Situation er dabei denke, fällt ihm seine Geburt ein. Diese war schwierig und dauerte sehr lange. Die Nabelschnur war um seinen Hals gewickelt, und er wurde per Not-Kaiserschnitt entbunden. Sein Gesicht war bei der Geburt bereits bläulich, und er wurde sofort in eine Kinderklinik gebracht. Dort verbrachte er mehrere Tage allein ohne seine Mutter.

Dieses Mal wählt er für seine Aufstellung bewusst mich als Mann für sein Anliegen, die Ursachen für seine kalten Hände und Füße zu ergründen. Mein erster Eindruck als dieses Anliegen ist, dass ich einen klaren Kopf habe und alles um mich herum gut wahrnehmen kann. Ich komme mir ganz schlau vor, als hätte ich den vollen Durchblick oder zumindest denÜberblick. Den Rest meines Körpers fühle ich nicht. Ich bin wie hingestellt. Die Füße stehen eng beieinander, und die Hände hängen bewegungslos herunter. Nach einer Weile merke ich, dass ich mich gar nicht bewegen kann, auch wenn ich es möchte. Die Befehle vom Kopf dringen nicht bis zum Körper durch, die Bewegungsimpulse von oben kommen unten nicht an. Ich teile Manfred dieses mit, und er bestätigt, dass er oft eine Blockade im Hals-Nacken-Schulter-Bereich fühle. Ja, so fühlt es sich für mich auch an: als ob es hier einen großen, dicken Block gäbe, der den Kopf vom Rest des Körpers isoliert.

Ich muss jetzt immer mehr an die Geburtssituation denken, die Manfred zuvor geschildert hat. Ich fühle mich zwar hellwach, aber wie abgelegt. Man hat mich einfach nach der Geburt hingelegt, und nun liege ich da und warte und kann nichts machen. Als ich Manfred meine Empfindungen mitteile, bestätigt er das und möchte jetzt gerne seinen Vater in die Aufstellung dazunehmen. Er habe nämlich erst vor ein paar Tagen eine Bergwanderung mit ihm gemacht und dabei sei es ihm sehr gut gegangen. Auch seine Hände und Füße seien dabei warm gewesen.

Mir als Vertreter seines Anliegens leuchtet dieser Vorschlag wenig ein. Offenbar hat der Kontakt mit»unserem Vater« das Problem ja nicht dauerhaft gelöst. Damit sind wir immer auf Hilfe von außen angewiesen, auf jemanden, der für uns da ist. Die Lösung für unser Problem müssen wir wohl eher von innen her finden. Manfred lässt sich davonüberzeugen. Er fragt mich nun, was ich denn bräuchte, damit es mir besser gehen könnte. Diese Frage von ihm kommt langsam bei mir an. Ich bin gerührt, dass sich jemand tatsächlich dafür interessiert, wie es mir geht und was ich bräuchte, damit es mir besser gehen könnte. Von unten im Körper steigt nun immer mehr eine Lawine von Traurigkeit in mir hoch, die schließlich in einem heftigen Tränenausbruch mündet. Manfred, der bisher in einem Abstand von einem halben Meter vor mir stand, kommt nun auf mich zu, und ich kann meinen Kopf auf seine Schulter legen. Es schüttelt mich heftig, und unterdrückte Traurigkeit bricht sich nun in mir Bahn. Ich höre mit meinem rechten Ohr an Manfreds Brustkorb sein Herz wild und heftig schlagen. Er umarmt mich, legt seinen Kopf auf meine Schultern und fängt nun auch an zu weinen.

Nach einer Weile bemerke ich, wie sich meine Beine bewegen wollen. Ich ziehe zuerst das eine Bein hoch und dann das andere. Aus der Perspektive des kleinen Babys erlebe ich das wie ein Strampeln. Manfred macht diese Bewegung in den Beinen spontan mit. Nach einer Weile fühle ich mich erschöpft vom Strampeln, und ich möchte mich von dieser Anstrengung ausruhen und eine Weile schlafen. Dabei geht mir durch den Kopf, dass ich auf diesen Babybeinen ja noch gar nicht selbst stehen kann. Dieser Gedanke aktiviert meine Arme, und ich hebe sie hoch, um mich in Manfreds Pullover festzukrallen. Nun fühle ich mich sicherer. Ich kann mich selbst festhalten.

Ich merke nach einer Weile, wie ich innerlich aufgeregt werde. Es ist aber keineÜbererregung, wie Manfred zunächst meint, sondern eine gute Art der Aufregung. Ich bin aufgeregt darüber, dass um mich herum etwas passiert und dass ich gefordert bin, meinerseits darauf zu reagieren. Es ist so etwas wie Vorfreude, Bereitsein und Lebenslust zugleich. Ich bin bereit zu leben!

Der Kontakt mit Manfred fühlt sich angenehm warm an. Ich habe den Eindruck, immer mehr