472.
Gleichheit und Liebe:
Rousseau, Herder, Mozart
Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden italienischen Damen gesungen haben. Um ehrlich zu sein, will ich es auch gar nicht wissen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Ich stelle mir vor, daß sie von etwas so Wunderbarem gesungen haben, daß es sich nicht mit Worten ausdrücken läßt, und es geht einem deswegen so sehr zu Herzen […] und für einen winzigen Augenblick fühlte sich jeder Mann in Shawshank frei.
Red (gespielt von Morgan Freeman) inDie Verurteiltenüber die»Canzonetta sull’aria« aus dem 3. Akt vonDie Hochzeit des Figaro.
Meine große Friedensfrau hat nur einen Namen: sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft […]. Gemäß ihrem Namen und ihrem Wesen obliegt es ihr, allen Bürgern Friedensgesinnungen einzupflanzen.
Johann Gottfried Herder,Briefe zur Beförderung der Humanität (1793-1797)
I.»Ach, so sind wir alle zufrieden«
Das Ancien régime singt mit lauter und autoritärer Stimme»Nein, nein, nein, nein, nein, nein«. Kurz vor dem Ende von Mozarts OperDie Hochzeit des Figaro weist der Graf, dessen Stellung unangefochten ist, die eindringlichen Bitten der anderen Personen zurück, die nacheinander vor ihm niederknien und Gnade und Mitgefühl erflehen. Für Almaviva ist die Rache für seine gekränkte Ehre das allerwichtigste (»Allein schon die Hoffnung, daß ich mich rächen kann, tröstet diese Seele und läßt mich jubeln«).[1] Den flehenden, demütig Niederknienden48mit Freundlichkeit zu begegnen ist ein Vorrecht des Adels, keine allgemeine menschliche Tugend. Er kann sie gewähren oder verweigern. Wenn er sich für letzteres entscheidet und die verletzte Ehreüber ein großmütiges Verzeihen stellt, kann niemand sagen, er handle falsch. Das Ancien régime funktioniert auf der Basis einer statusgestützten Moral, königlicher Vorrechte und von Schmach und Schande.
Doch plötzlich entledigt sich die Gräfin ihrer Verkleidung als Susanna, womit sie zugleich die List enthüllt, mit der sie ihren Ehemann getäuscht und der Heucheleiüberführt hat. (Er hatte sich gerühmt, dasJus primae noctis zu beenden, während er durchaus vorhatte, davon Gebrauch zu machen.) Jeder Anwesende ruft mit verhaltener Stimme, daß er nicht weiß, was als nächstes passiert:»O Himmel, was seh ich! Ich träume, ich sehe Gespenster! Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Die Streichinstrumente, die im raschen Wechsel von einer hohen in eine tiefe Tonartübergehen, drücken starke Erregung und Ungewißheit aus. Rückblickend betrachtet, geht es um die Ungewißheit, die derÜbergang zwischen zwei politischen Ordnungen mit sich bringt.
Jetzt kniet der Graf vor der Gräfin nieder und singt mit einer durch seine Verwirrung weicher gewordenen Stimme eine Phrase– lyrisch und legato, verhalten, fast sanft–, die man von diesem Mann bisher nicht gehört hat.»Gräfin, Vergebung!« Dann kommt eine lange Pause.[2] Aus der Stille heraus singt die Gräfin»più docile io sono, e dico di sì« (»gelehriger bin ich und sage: ja«).[3] Die musikalische Phrase schwingt sich49sanft in die Höhe und senkt sich dann herab, als wolle sie den knienden Ehemann berühren. Und jetzt wiederholt die gesamte Gruppe mit gedämpften und feierlichen Tönen die musikalische Phrase der Gräfin, diesmal zu den Worten»tutti contenti saremo così« (»ach, so sind wir alle zufrieden«). Die Chorversion der Phrase erinnert an die feierliche Schlichtheit eines Chorals (der in diesem katholischen musikalischen Universum auf das plötzliche Fehlen einer Hierarchie verweist).[4] Es folgt ein zögerndes musikalisches Zwischenspiel des Orchesters.
Dann bricht es aus der Gruppe heraus, ein abrupter Freudentaumel:[5]»Diesen Tag der Qualen, der Launen und der Tollheit kann nur die Liebe enden in Zufriedenheit und Freude.« Liebe ist anscheinend der Schlüssel nicht nur zum persönlichen Glück der Hauptfiguren, sondern auch zum Glück aller, der gesamten Gruppe, wenn diese singt:»Corriam tutti a festeggiar« (»Eilen wir alle zum Fest!«).
Die Hochzeit des Figaro ist in jeder Hinsicht ein Schlüsseltext in der Geschichte des Liberalismus, denn hier wird die Ersetzung der Feudalordnung durch eine neue Ordnung der Brüderlichkeit und Gleichheit beschworen. Wer sich mit der Geschichte desFigaro befaßt, konzentriert sich zumeist auf das Theaterstück von Beaumarchais und läßt die50Oper von Mozart und da Ponte außer acht. Doch die Oper ist wesentlich mehr als dieses Stück; sie ist der philosophische Text, mit dem sich jeder auseinandersetzen sollte, derüber die Zukunft der liberalen Demokratie nachdenkt. Die Oper– und nicht das Stück– hält dem Vergleich mit den größten philosophischen Beiträgen des 18. Jahrhunderts zum Thema»Brüderlichkeit« stand– insbesondere mit denen von Rousseau und Herder –, weil es der Förderung und Pflege jener Emotionen einen zentralen Stellenwert einräumt, die erforderlich sind, damit Brüderlichkeit mehr als ein schönes Wort ist. Betrachtet man die Oper als eine philosophische Aussage, die im Dialog mit Rousseau und Herder steht, reicht es jedoch nicht aus, nur das Libretto zu studieren– denn die entscheidenden Erkenntnisse werden eher durch die Musik als durch das geistreiche, mitunter allerdings oberflächliche Libretto von da Ponte vermittelt.
Gewöhnlich heißt es, MozartsDie Hochzeit des Figaro (1786) sei eine Art»Verlegenheitsl