1. Kapitel
In einer deutschen Residenzstadt, deren Einwohnerzahl sich schon der Million nähert, wurde ein an der Ecke zweier Hauptstraßen stehender Schutzmann von einem alten Herrn nach der Färbergasse gefragt.
Die Frage war sehr höflich gestellt, mit einem‚Bitte‘ eingeleitet, und die ganze Erscheinung des alten Herrn war eine derartige, dass der Schutzmann gleich eine außergewöhnlich stramme Stellung einnahm.
‚Geheimrat oder mindestens Professor‘, mochte er einschätzen, während er sachgemäße Auskunft gab.
Der alte Herr dankte, lüftete dabei sogar etwas den Hut, setzte seinen Weg in der bezeichneten Richtung fort.
Es ist eine gar alte Stadt. Mitten zwischen den eleganten Hauptstraßen, von den prächtigen Gebäuden begrenzt, liegt derälteste Teil, ein Quartier von baufälligen Häusern. Einst wohnten hier die reichsten Patrizier, aber Geschmack und Lebensansprüche haben sich eben geändert, heute wohnen in diesen Steinbaracken nur noch dieÄrmsten der Stadtbevölkerung, deren Beruf den Auszug nach einem billigen Vorort nicht zulässt, kleine Handwerker und dergleichen, die Familie bis zuräußersten Grenze der polizeilichen Erlaubnis zusammengedrängt, um womöglich noch Raum für einige Aftermieter zu bekommen.
Färbergasse Nummer achtzehn– der alte Herr hatte sein Ziel erreicht, ging noch einmal mit drei Schritten hinüber auf das andere Trottoir, auf dem sich zwei Menschen nicht ausweichen konnten, und musterte das vierstöckige Haus, das schmal wie ein Turm war, denn es besaß in jeder Etage nur zwei Frontfenster.
Der alte Herr hatte allen Grund, den grauen Kopf zu schütteln. Hier war es die höchste Zeit, dass endlich die Bauspekulation begann.
Er begab sich wieder hinüber, betrat den Hausflur, prallte mit einer Person zusammen, die in dem Halbdunkel gar nicht zu erkennen war.
„Entschuldigen Sie– wohnt in diesem Hause ein Herr Otto König?“
„Otto König?“, wiederholte fragend eine helle Kinderstimme.„Was soll’r denn sin?“
„Er ist früher Lehrer gewesen, jetzt privatisiert er wohl.“
„E Lehrer? Nee, das weeß’ch nich, ich bin selber ganz fremd.“
„Oder“, hielt der Herr den Jungen, der fort wollte, noch einmal zurück,„eine Frau Winter?“
„Die Waschfrau Winter?“
„Jawohl, jawohl, sie ist Waschfrau.“
„Von der komme ich gerade. Die wohnt oben in der fünften Etage untern Dach.“
Der Junge entfloh in die sonnige Freiheit und der alte Herr, der eine Brille trug, suchte sich weiter im Finstern zu orientieren. Zwar gewöhnte sich nach und nach auch sein schwaches Auge an das Halbdunkel, er gewahrte den Anfang einer Treppe, aber gleich nach dem Erklimmen der ersten Holzstufen, die unter seinem Trittächzten, verließen ihn die Lichtgötter wieder.
Die Polizei verlangte, dass auf diesen Treppen auch am Tage immer eine Petroleumlampe brannte. Das Gebot wurde nicht eingehalten, wenigstens heute nicht. Der alte Herr ließ das Geländer los und zog eine Streichholzschachtel hervor, brannte ein Zündholz an und so ging es in Etappen weiter empor, immer tastend und leuchtend, das noch glimmende Streichholz, das seinen Dienst für sechs Stufen getan, stets sorgsam austretend. Nur auf jedem Absatz wurde es etwas heller, dann ging es wieder in den Orkus der Nacht hinein.
Himmel, was für bescheidene Leute müssen die damaligen Patrizier doch gewesen sein! Mit den kostbaren Silbersachen und den reichgeschnitzten Möbeln, die einst die Räume füllten, wird heute ein schwunghafter Raritätenhandel getrieben, aber diese Wohnungen selbst... Ob es auf den Treppen schon damals so ge... rochen hat?
Also sogar fünf Etagen hatte dieses Haus. Das war von unten gar nicht zu sehen, wegen des schrägen Dachs. Doch schließlich siegte die Beharrlichkeit des Treppenkraxlers und auch seine Streichhölzer hatten ausgehalten.
Hier oben auf dem Flur der fünften Etage war es sogar ziemlich hell. Auch recht sauber sah es