Erster Teil: Claudius der Prophet
1. Kapitel
Der deutsche Passagierdampfer‚Gladiator‘ steuerte in die Straße von Malakka ein. Sein Ziel war Singapur. Eine versengende Glut brüteteüber der spiegelglatten Wasserfläche, halb verschmachtet lagen oder saßen die Passagiere an Deck unter den Sonnensegeln, und einige von ihnen hatten auch noch in der Nacht dem Silvesterpunsch etwas zu reichlich zugesprochen. Da rächte sich der erste Januar in diesem Klima auf eine furchtbare Weise.
Unfähig zu lesen, zu sprechen, sich zu bewegen, auch nur zu denken, wurden doch alle von einer gewissen Angst beherrscht. Wohl fächelte ein leiser Wind ihre Wangen, aber das war nur der Widerstand, den sie selbst auf dem schnellen Dampfer der Atmosphäre boten. In Wirklichkeit herrschte vollkommene Windstille, kein Wölkchen trübte den blauen Himmel, dagegen war die Sonne von einem Nebel umflort, wie es bei solch einer Witterung noch niemand beobachtet hatte. Am beunruhigendsten war das Benehmen des Kapitäns und der Steuerleute. Sie waren vollzählig auf der Kommandobrücke versammelt, flüsterten zusammen, der sonst so gelassene Kapitän Becker zeigte offenbare Besorgnis, ging in das Kartenhaus, das auch die notwendigsten nautischen Instrumente barg, rief die Offiziere, schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern.
„Ich glaube, wir können uns auf einen kleinen Taifun gefasst machen“, meinte ein Herr phlegmatisch und bemühte sich dann, das Gähnen zu unterdrücken, welches diese Bewegung der Sprachwerkzeuge nach langer Pause erzeugte.
Die Worte waren an eine junge Dame gerichtet, die halb liegend auf einem Klappstuhl ruhte und mit matter Hand einem kleinen Mädchen Kühlung zufächelte.
Eva Becker war die Schwester des Kapitäns und begleitete diesen schon seit mehreren Jahren, fast seitdem sie als achtzehnjähriges Mädchen das Pensionat verlassen hatte, ständig auf seinen Seereisen. Das Schiff war ihr völlig zur Heimat geworden. Solch ein Salondampfer wetteifert ja mit dem komfortabelsten Hotel und dabei wechselt auch noch von Zeit zu Zeit die Aussicht aus dem Fenster. Lief das Schiff eine größere Hafenstadt an, so besuchte sie einmal das Theater, die Oper, das Kunstmuseum, andere ihr noch fremde Sehenswürdigkeiten, orientierte sichüber die neuesten Erscheinungen der schönen Literatur, ergänzte ihre eigene Bibliothek, folgte einmal einer Einladung, machte einen Ausflug mit, und dann blieb sie wieder an Bord. Dabei war das junge Mädchen vollkommen frei von Melancholie, Schwärmerei und Emanzipiertheit, dichtete nicht den Mond an, ergriff nicht im Sturm mit starker Hand das Steuerrad, kletterte nicht einmal auf den Rahen herum– aber Geist hatte sie, und dass, wenn dereinst der Rechte kam, sie das Schiff verließe, darüber war sich Eva auch klar. Sie hoffte nur, es würde ein Seemann sein.
Vor einem Jahr war Kapitän Beckers Frau gestorben. Als sich der Vater mit der Schwesterüber das mutterlose Kind beraten wollte, machte ihm Eva kurzerhand den Vorschlag, die dreijährige Martha doch auch mit aufs Schiff zu nehmen, und Becker war hiermit sofort freudig einverstanden. Es istüberhaupt nichts Seltenes, dass Kapitäne, selbst solche von Segelschiffen, ihre ganze Familie beständig bei sich an Bord haben, sie wirken sich die Erlaubnis aus, ihre Kinder selbst unterrichten zu dürfen, und man kann sich eigentlich gar kein idealeres Familienverhältnis denken, vereint in Sonnenschein, in Sturm, in Not und Tod– von der Bildung, Anregung, Menschenkenntnis usw., die auf solchen Seereisen den zu erziehenden Kindern zuteilwird, vor allen Dingen auch Gesundheit, gar nicht zu sprechen.
So blieb auch die kleine Martha an Bord des‚Gladiator‘ und die Tante war ihr eine liebevolle Mutter und Lehrerin.
„Sie haben sicher noch keinen Taifun durchgemacht, Herr Claudius“, entgegnete Eva auf die Bemerkung ihres Nachbars.