Kapitel 1
Ein kräftiger Wind aus Nordwest fegte über das Watt heran und schob graue Wolkenberge vor sich her. Svenja fröstelte und kroch tiefer in ihre gefütterte Jacke. Am Horizont schlichen Tanker groß wie Ungetüme entlang, Brandseeschwalben hielten im nassen Sand Ausschau nach Prielwürmern, und ein paar abgehärtete Touristen wagten sich barfuß hinaus in diese eigenwillige Landschaft auf Zeit.
Verrückt, dachte Svenja. Manche Leute waren wirklich verrückt. Im Sommer konnte sie die Wanderer ja noch verstehen. Dann kamen sie aus den großen Städten an die Nordseeküste, fanden Erholung und die gesunde Luft und liefen zu Fuß bis zur Insel Neuwerk, elf Kilometer weit. Aber jetzt im März? Wussten die nicht, dass in dieser Gegend noch Winter war? Waren die lebensmüde? Ja, wenn das hier ein Strand am Mittelmeer gewesen wäre, in Italien vielleicht, oder in Griechenland. Svenjas Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. Sie schloss die Augen, sah plötzlich weiße Palmenstrände und azurblaues Wasser vor sich. Obwohl – gab es am Mittelmeer überhaupt Palmen? »Woher soll ich das wissen?«, fragte sie laut einen Regenpfeifer, der daraufhin erschrocken davonflog. Ich bin ja noch nirgends gewesen. Nur hier, in diesem Kaff namens Keldorf, zu weit weg von Cuxhaven, um sich städtisch zu geben, und nicht interessant genug wie die Nordseelheilbäder St. Peter-Ording oder wenigstens Duhnen, um so richtig vom Tourismus zu profitieren.
»Moin, Lütte, träumst du mal wieder?«
Svenja zuckte zusammen und sah auf. Sie mochte es nicht, Lütte genannt zu werden. Schließlich war sie nicht klein, sondern mit viel gutem Willen mittelgroß. Aber bei diesem Mann machte sie eine Ausnahme. Er war nämlich selbst ein Riese, dabei blond wie ein Wikinger mit sturmgrauen Augen und Schultern, breit wie ein Schrank.
»Reiko«, murmelte sie und lächelte. Das Lächeln veränderte sie, aber davon ahnte Svenja nichts. Sie hielt sich insgesamt für mittelmäßig mit ihrem braunen Haar und einem Gesicht, das ihr bei jedem Blick in den Spiegel nur durchschnittlich hübsch vorkam. Doch wenn sie lächelte, ging ein Leuchten von ihr aus, das den Menschen in ihrer Nähe das Herz wärmte.
Reiko Kerk räusperte sich umständlich. Eben war ihm noch trotz Norwegerpulli und Öljacke kalt gewesen, jetzt schoss ihm plötzlich die Hitze den Hals hinauf. »Willst du nicht aufmachen?«, fragte er schnell und wies mit seinem stoppeligen Kinn in Richtung eines sechseckigen Holzhäuschens direkt an der Uferpromenade. »Oder träumst du lieber noch ein Weilchen von warmen Stränden?«
»Woher weißt du das?«
»Ist nicht schwer zu erraten.« Reiko nahm ihre eiskalten Finger und wärmte sie in seinen schaufelgroßen rauhen Händen. »Du bist schon ganz durchgefroren, Engelchen. Wovon solltest du also sonst träumen?«
Svenja seufzte tief. Sie mochte auch ihren Spitznamen Engelchen nicht besonders. Sie fand, das klang viel zu brav und lieblich. Gut, sie hieß mit Nachnamen Engel. Das war aber noch lange kein Grund, ihren Namen zu verniedlichen. Sie nannte Reiko ja auch nicht Kerkchen. »Es wäre so schön, hier mal wegzukommen«, sagte sie.
»Ich weiß«, erwiderte Reiko, obwohl er sie nicht wirklich verstand. Er hatte sein ganzes Leben in Keldorf verbracht, und er liebte dieses Land, flach und grau, von Deichen durchzogen und von Menschen bevölkert, die sich von keiner Sturmflut vertreiben ließen. Sein Vater war Krabbenfischer gewesen und hatte den Jungen schon früh mit raus aufs Meer genommen. Reikos ganze Liebe galt auch heute der Nordsee, obwohl er selbst nur noch selten fischte. Es war lukrativer, Touristen mit auf eine Tour zu nehmen. Seine ganze Liebe – Reikos Gedanken kamen ins Stocken.
In Wahrheit liebte er dieses Mädchen hier tausend Mal mehr als