2. Kapitel
Professor Sobieski ist ein weiser Mann. Und das nicht allein aufgrund seines Alters, findet Jakób, er ist vielmehr ein weiser Denker. Die beiden sitzen bei Kerzenlicht an einem kleinen Holztisch auf einer harten Bank in einer Küche. Sie haben mittlerweile mit den komplizierten wissenschaftlichen Formeln und der Analyse chemischer Zusammensetzungen abgeschlossen, deshalb sind die anderen beiden Studenten längst in die Dunkelheit verschwunden. So können sie ungestört reden.
„Ich muss nächste Woche nach Krakau“, informiert Jakób seinen Professor,„aber in der Woche darauf werde ich wieder zurück sein.“
Der Professor nickt, er gehört nicht zu den Menschen, die unnötig Fragen stellen.
„Vielleicht gelingt es mir ja, dort das Buch zu besorgen, wonach Sie suchen, Professor.“
„Du wirst es wahrscheinlich nicht bekommen.“ Die Kerze flackert, sie wirft schwache Schatten an die Steinmauer.„Nietzsches Wort…“ Professor Sobieski nimmt seine kneiferartige Brille ab und putzt sie vorsichtig.„Nietzsches Wort‚Blut und Grausamkeit sind das Fundament aller Dinge‘ ist wahr geworden. Keine Nation hat jemals solch eine Unterdrückung erlebt wie die, die Polen nun erfährt.“
„Das ist wahr, Professor“, stimmt Jakób zu. Sein Volk, das Leiden seines Landes– all das geht ihm zu Herzen.
Vorsichtig legt Professor Sobieski die Bügel seiner kleinen Brille wieder um die Ohren.„Erst hat Deutschland von Westen her Polen angegriffen, dann hat die Sowjetunion dasselbe aus dem Osten getan und dann haben sie Polen unter sich aufgeteilt, so als wären wir nicht schon seit tausend Jahren ein Volk gewesen.“
„Das ist wahr, Professor.“ Jakób weiß, dass der Professor manchmal einen langen Anlauf nimmt, um seine Argumentation zum Ziel zu bringen.
„Doch was die Nazis im Süden getan haben, ist noch viel schlimmer“, fährt Professor Sobieski fort.
Jakób ahnt, dass er auf die Schließung der Universität anspielt, die eine offene Wunde bleibt.
„Die Krakauer Universität ist eine derältesten Europas, sie ist schon sechshundert Jahre alt.“ Professor Sobieski nimmt seine Kneiferbrille wieder ab– eines der Gläser hat einen Sprung, der mitten hindurchgeht.
Es bleibt einen langen Moment lang still. Jakób versteht. Auch das, was der Professor nicht ausspricht. Deshalb sagt er:„So ist es, Professor.“
„Einfach so die Universität zu schließen! Das ist ein himmelschreiendes Unrecht.“
Der greise Professor spricht niemalsüber seine verschwundenen Kollegen. Er setzt sich wieder die Brille auf.
Jakób nickt.„Ja, Professor.“
„Wie du weißt, Jakób“, fährt Professor Sobieski fort,„glaube ich, dass die Nazis vorhaben, den Begriff‚Polak‘ vollständig aus dem Wörterbuch zu streichen. Polen soll eine Kolonie werden und die Polen Sklaven der Deutschen– ein Reservat, ein großes Arbeitslager des Dritten Reiches.“
Das war es also, was den alten Mann plagte.„So etwas werden wir niemals zulassen, Professor. Die Heimatarmee findet in der Bevölkerung große Unterstützung– zu uns gehören um die zweihunderttausend Männer, die sich gleichzeitig erheben und kämpfen werden, wenn die Zeit dafür reif ist.“
„Worauf wartet ihr dann noch?“, fragt der Professor ungeduldig.„Wann ist die Zeit denn endlich reif? Leidet unser Volk denn noch nicht genug?“
„Wir haben noch zu wenig Ausrüstung, Professor“, versucht Jakób zu erklären.„Wir haben zwar ein ordentliches Arsenal an Kleinwaffen, aber kaum schwere Kaliber. Wir wollen unsere Mittel schonen, bis sich die Deutschen zurückziehen, dann können wir hinter ihnen aufräumen. Wir werden nicht vor der Zeit rebellieren, denn wir wollen nicht das Leben wehrloser Bürger riskieren oder historische Gebäude unnötig in Gefahr bringen. Die Operation Sturm ist ein Plan, nach dem wir durch Sabotage…“
„Ist es wahr“, fällt ihm der Professor ins Wort und blinzelt an dem Sprung in seinem Brillenglas vorbei,„dass ihrüberlegt, mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten?“
Jakób wählt seine Worte sorgfältig.„Manche Leute reden davon, das stimmt, Professor, aber ich traue den Kommunisten nicht.“
„Ja“, erwidert der Professor,„ich habe selbst während des Großen Kriegs von 1914 in Russland gekämpft. Auch ich traue ihnen nicht.“
„Professor, ich fürchte die Russen mehr als die Nazis.“ Jakób lehnt sich vor; er redet eindringlich, denn der Professor ist der einzige Mensch, der versteht, was in ihm vorgeht.„Ich glaube, dass Russland nach dem Krieg zu einer Weltmacht aufsteigen wird, vielleicht sogar zur größten. Ich glaube auch, dass es bei den Westmächten, die jetzt alles tun, um ihremöstlichen Bundesgenossen entgegenzukommen, noch Heulen und Zähneklappern geben wird.“
Der Professor nickt.„Wir müssen wieder zurück zur Rigagrenze von 1921“, sagt er geistesabwesend.„Denke daran, was der große patriotische Dichter Mickiewicz geschrieben hat…“
Als Jakób später durch die Dunkelheit zurück nach Hause geht, weiß er, dass auch Professor Sobieski seine Befürchtungen ni