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Donnergrollen aus dem Osten
Was war das?
Ein Geräusch von fernem Donner brach in den Sommertag ein.
Da war es wieder, vom Windüber die sonnigen Wiesen und Wälder getragen. Die Pferde auf den Koppeln bäumten sich auf und jagten mit geblähten Nüstern nervös umher, die dunklen Augen furchtsam geweitet. Auf den Feldern und bei den Ställen hörten es auch die Landarbeiter, die Lehrjungen und die uniformierten Gestütwärter.Ängstlich versuchten sie die Entfernung zu schätzen. Dreißig, vierzig Kilometer vielleicht, noch auf der anderen Seite der Grenze, aber dennoch erschreckend nahe.
Ihre Sorge stand unter Strafe. Immer wieder war ihnen versichert worden, daß die Rote Armee keinen Fuß auf deutschen Boden setzen würde. Sie sollten sich auf das militärische Genie ihres Führers verlassen, der Deutschland zum Endsieg führen würde. Der Führer verfügeüber»Wunderwaffen«, die er zu gegebener Zeit einsetzen würde, um den Feind zu vernichten. Es war verboten,über ein Weggehen zu sprechen– das sei defätistisch. Jeder, der zu flüchten versuchte, galt als Saboteur. Darauf stand die Todesstrafe.
Die meisten Ostpreußen akzeptierten, was die Autoritäten sagten. Wenige wußten, was tatsächlich vor sich ging.Sie hatten Hitler und seinen Gefolgsleuten vertraut. Gleichwohl fanden sie manches zutiefst beunruhigend, was sie mit eigenen Augen sahen und mit eigenen Ohren hörten. So nahm mit der Zeit die Anzahl derjenigen, die immer noch glaubten und vertrauten, rapide ab. Zu Hause packten die Frauen heimlich noch eine Kiste und verstauten noch einen Schinken als Proviant für ihre Reise.»Wann fahren wir?« fragten sie immer wieder. Aber die Antwort war wieder einmal Schweigen.
Dr. Ernst Ehlert hatte das Geräusch auch gehört. Es bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Er trug eine große Verantwortung, und doch waren ihm die Hände gebunden. Als Landstallmeister von Trakehnen, demältesten, berühmtesten und renommiertesten staatlichen Gestüt in Deutschland, waren ihm 1200 der herrlichsten Pferde der Welt anvertraut. Einen Steinwurf entfernt von dem weiß verputzten, einem Schloßähnelnden Landstallmeisterhaus, seinem offiziellen Wohn- und Amtssitz, grasten auf den Koppeln Pferde, so weit das Auge reichte, wundervolle Erben einer mehr als zweihundert Jahre alten, hochqualifizierten, zielgerichteten Zucht. Geschmeidige, elegante Tiere, die Zähigkeit, Schnelligkeit, Intelligenz und Ausdauer mit erstaunlicher Anmut und Schönheit verbanden. Die Trakehner waren der Traum eines jeden Reiters, vollendete Kavalleriepferde und für Kenner wie Ehlert ein unvergleichlicher Gen-Pool. Dieser Kernbestand der Rasse war vielleicht der größte Vermögenswert, den Ostpreußen besaß, eine Hauptquelle seines Ruhmes, seiner Einkünfte und seines Stolzes. Und doch wurde ihr Leben, wie das der 3400 Menschen, die sich um sie kümmerten, mit wahnwitziger Leichtfertigkeit aufs Spiel gesetzt.
Die ganzen Monate Juni und Juli 1944über hatte die Rote Armee ihre Kräfte an der anderen Seite der Grenze zusammengezogen und den Einmarsch nach Ostpreußen vorbereitet. Es war beängstigend genug, daß Trakehnen so dicht an der Grenze lag. Doch kürzlich hatte die Luftwaffe noch zwei Feldflugplätze auf dem ausgedehnten Gestütgelände angelegt, einen davon unmittelbar neben der Paradekoppel. Der Lärm der Jagdmaschinen verschreckte die Tiere, und nicht nur das: Die Flugzeuge machten das gesamte Gebiet zu einem Hauptangriffsziel der sowjetischen Bomber. Nach aller Vernunft mußten Pferde und Personal flüchten, je schneller, desto besser. Doch diejenigen, die die Entscheidungen trafen, waren Vernunftgründen nicht zugänglich.
Pläne zu einer Evakuierung Trakehnens im Kriegsfalle existierten bereits. Ehlert hatte sie selbst nach seinem Dienstantritt 1931 zusammen mit denörtlichen Behörden und dem Landwirtschaftsministerium entworfen, obwohl damals ein Krieg in weiter Ferne lag. Die Pferde sollten nach Westen gebracht werden, in das als sicher geltende»Heilsberger Dreieck«, eine stark befestigte Region um die ostpreußische Hauptstadt Königsberg und den Hafen Pillau. Doch diese Pläne schlummerten in einem Safe in Berlin. Wer würde es wagen, sie hervorzuholen? Das wäre gleichbedeutend mit Hochverrat. Darüber dachte Ehlert lieber nicht nach. Er hatte bei seinen Vorgesetzten im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft immer wieder angefragt, welche Vorbereitungen für die Evakuierung getroffen würden. Bislang hatte er noch keine Antwort erhalten. So konnte er nur im geheimenÜberlegungen anstellen, alles andere war gefährlich. Die Gestapo ließ das Gestüt nicht aus den Augen, und potentielle Informanten gab esüberall.
Ernst Ehlert war nicht der einzige, der sich sorgte. In ganz Ostpreußen befürchteten Privatzüchter, ein paar Dutzend Großgrundbesitzer undüber zehntausend Kleinbauern Schlimmes nicht nur für ihre Familien und ihren Besitz, sondern auch für die edlen Tiere, die einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sicherten. Denn Ostpreußen war das Land der Pferde. In diesem schönen, sanfthügeligen Landstrich zwischen der Ostsee im Westen und Litauen im Osten, der Memel im Norden und Polen im Süden war Zucht und Aufzucht der Pferde einer der wichtigsten Erwerbszweige. Die Ostpreußen deckten zum guten Teil den Bedarf des Heeres, ihre Pferde